Im Auf und Ab der Gezeiten: Normannische Inseln

Im Juni wollen sich die G8-Staaten in Deauville treffen, dort, wo Bundeskanzlerin Merkel, Frankreichs Staatspräsident Sarkozy und Russlands Präsident Medwedew im Oktober 2009 zum Dreiergipfel zusammenkamen. Dabei ist das normannische Zuckerwatte-Städtchen mit den putzigen Fachwerkhäusern und teuren Modegeschäften, wo sich Gucci und Armani, Dior und Dolce und Gabbana gegenseitig die Schau stehlen, alles andere als ein Ort für politische Diskussionen. Schon eher ein Örtchen zum Verlieben. Immerhin drehte Claude Lelouch hier seinen epochalen Liebesfilm „Ein Mann und eine Frau“. Am breiten Strand, wo das  Sprachgewirr groß ist und sich elegante Hunde unter die Touristen aus aller Welt mischen, herrscht eine entspannte Atmosphäre, die typisch zu sein scheint für die Küstenorte und die Inseln der Normandie.

Das Meer bestimmt das Leben an der normannischen Küste, mehr noch das
auf den Inseln im Atlantischen Ozean. Nicht nur die Fischer leben im
Rhythmus der Gezeiten. Auf Tatihou bestimmen Ebbe und Flut auch über das
Musik-Festival, das alljährlich auf der Insel gefeiert wird. Denn dafür
kommen die Menschen übers Meer. Dann, wenn sich das Wasser
zurückgezogen und das Labyrinth der Austernbänke vor der Küste
freigelegt hat. Die Idee, die Besucher übers Watt pilgern zu lassen,
hatte Gerard Viel (59). Er gab dem Festival auch den Namen „Musik vom
Mee
r“. Zu hören ist „Volksmusik, modern interpretiert und mit Seele in
unsere Zeit umgesetzt“. Neben Italienern und Griechen, Deutschen und
Schweden sind auch Engländer mit von der Partie.
Die waren in der Gegend über Jahrhunderte nicht gern gesehen. Ende des
17. Jahrhunderts hatte Frankreichs berühmter Festungsbaumeister
Sebastien LePrestre, besser bekannt als Marquis de Vauban, damit
begonnen, gegen den Erbfeind von den britischen Inseln die Ostgrenze
Frankreichs zu befestigen. Er überredete den König auch, zwei Türme zu
bauen, einen in St.-Vaast-La -Hugue und einen auf Tatihou. Seither kamen
die britischen Invasoren nicht mehr an Land – außer 1944 als Befreier.
Heute gehören beide Türme zum Unesco-Weltkulturerbe, was dem Örtchen und
der vorgelagerten Insel schon viele Besucher beschert hat. Die kommen
dann auch in den Genuss der wunderbar nussig schmeckenden Austern von
Saint Vaast, die hier seit 1880 gezüchtet werden.
Und sie erfahren auch, wie hart und gefährlich das Leben der Seeleute
ist. Noch im Februar 2010 verschwand ein 25-jähriger Seemann bei seiner
ersten Ausfahrt. Eine Tafel, unter der ein frischer Blumenstrauß hängt,
erinnert in der kleinen Kapelle am Meer an den jungen Mann. Ein Mal im
Jahr wird hier eine Messe für die verunglückten und verschwundenen
Seeleute gefeiert. Das Meer kann grausam sein.
Aber es öffnete über die Jahrhunderte den Menschen die Welt. Das kleine
Granville, eine Gründung der Wikinger etwa, galt lange Zeit als das Tor
nach Neufundland. Heute fahren die meisten Boote höchstens noch auf die
Insel Chausey – ein beliebter Familienausflug. In langen Schlangen
warten ungeduldige Familienväter mit Fischernetzen bewaffnet, Mütter mit
Picknickkörben und Kinderwägen und kleine Kinder mit Eimer und
Schaufel. Tatsächlich ist Chausey, nur einen Katzensprung von Granville
entfernt, eine andere Welt. Der Rhythmus der Gezeiten gibt den Rhythmus
des Lebens vor. Es gibt keine Autos und wer das Handy nutzen will,
landet oft im Funkloch. Dafür brüten hier seltene Vogelarten und die
Felsen sehen aus wie Fabeltiere. Gerade noch zehn Menschen leben hier
ständig, teilweise im Fort, das nach Ideen Vaubans gebaut aber nie zur
Verteidigung genutzt wurde. Einer Trutzburg gleicht das „Chateau
Renault“, ein Fort aus dem 16. Jahrhundert, das Autokönig Louis Renault
Anfang des 20. Jahrhunderts als Ruine gekauft und restauriert hatte und
das verschlossen ist wie eine Auster. Neue Häuser dürfen nicht gebaut
werden. Die Hauptinsel samt den winzigen Inselchen, die sich bei Ebbe
rasant vermehren, ist im Privatbesitz. Wenn die Flut kommt, versinkt
diese ganze Inselwelt wieder im Meer.
Übers Meer kamen jahrhundertelang auch die Pilger zum Mont St. Michel,
dem heiligen Berg, der noch heute wie eine Festung des Erzengels mit dem
Flammenschwert wirkt. Die Statue des heiligen Michael, der die Schlange
mit Füßen tritt, krönt die Kirchturmspitze. Ein Hubschrauber brachte
sie 1987 zurück, nachdem sie von einem Blitzschlag demoliert worden war.
Aber die Besucher – die meisten davon Touristen, die schon in den
Souvenirgeschäften, Restaurants und Museen hängen bleiben – müssen heute
weder per Hubschrauber noch übers Meer kommen. Ein Damm verbindet den
„heiligen Berg“ mit dem Festland und in den Salzmarschen grasen die
Schafe. Noch. Denn der Mont St. Michel, seit 1979 Weltkulturerbe, soll
wieder zur Insel werden. Ein 200-Millionen-Euro Projekt wird ihm seine
Wattlandschaft zurückgeben und den Besuchern ermöglichen, die Trutzburg
des Erzengels wieder im Auf und Ab der Gezeiten zu erleben.
Ach ja, vielleicht sollten die G8-Politiker statt am mondänen Strand von
Deauville besser in der klösterlichen Abgeschiedenheit des Mont St.
Michel
tagen…

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