Die Krim und der Mantel der Geschichte

Der Runde Tisch mit den drei Fähnchen der USA, der UdSSR und Großbritanniens vor den drei zerschlissenen Armsesseln sieht so aus, als hätten sich die Gesprächsteilnehmer nur kurz in den Garten begeben, damit Churchill eine seiner berühmten Zigarren schmauchen konnte. Hier im Liwadjia-Palast in Jalta, der Sommerresidenz des letzten Zaren Nikolai II., wurde im Februar 1945 Geschichte geschrieben. Die damals mächtigsten Männer der Welt, US-Präsident Franklin D. Roosevelt, Sowjet-Diktator Josef Stalin und der britische Premierminister Winston Churchill teilten an diesem Runden Tisch in sieben Tagen die Welt unter sich auf. Es ging um die schnelle Beendigung des Weltkrieges, um Besatzungszonen und Millionen-Reparationen.
Fast ehrfürchtig bewegt sich die Gruppe älterer Deutscher durch die historischen Räume. Gerade so, als habe der Mantel der Geschichte, den Altkanzler Kohl so gern zitierte, auch sie berührt. Jalta, das ist für sie bis heute der Ort der Krim-Konferenz, die dem Zweiten Weltkrieg ein Ende setzte und auch den Boden bereitete für die spätere Teilung Europas durch den Eisernen Vorhang. „Das waren doch alles Gangster“, knurrt ein alter Mann und schüttelt unwillig den grauen Kopf beim Anblick der historischen Bilder. Doch der erst 1911 aufwändig im Stil der italienischen Renaissance erbaute Weiße Palast erzählt auch eine andere Geschichte, die des letzten Zaren und seiner Familie. Von den Wänden im ersten Stock lächeln Nikolai II. und seine deutsche Frau Alix von Hessen-Darmstadt, die vier Töchter und der Zarewitsch Alexej. Sie alle wurden 1918 im Exil in Jekaterinburg erschossen. „Auch Anastasia, die jüngste Tochter“, bekräftigt Tatjana, die ukrainische Führerin auf die Nachfrage einer älteren Dame, die sich noch an Klatschgeschichten um eine angebliche Zarentochter erinnern kann.
In den Wirren der Oktoberrevolution war der Palast geplündert worden, später wurde er zu einem Sanatorium umfunktioniert. Heute ist kaum etwas von der Original-Einrichtung vorhanden. Auch der großartige Teppich mit dem Porträt des Zarenpaares, ein Geschenk aus Persien zum 300-jährigen Jubiläum der Romanows 1913, der jetzt wieder über dem Kamin hängt, war lange Zeit verschwunden und tauchte erst 1983 wieder bei einer Auktion auf. Damals kaufte ihn der Exilrusse und Wahl-Liechtensteiner Baron Eduard Aleksandrowitsch von Falz-Fein und machte ihn dem Liwadija-Palast zum Geschenk. Dass der Palast heute Museum ist, sei, so erzählt es Tatjana, dem amerikanischen Präsidenten Richard Nixon zu verdanken, der die Stätte der Jalta-Konferenz sehen wollte.
Auch der Watergate-Präsident ist längst Geschichte ebenso wie die Sowjetunion.
Seit 1991 ist die Ukraine ein eigener Staat – und bis zum 16. März gehörte die Krim dazu. Das Referendum, bei dem über 95 Prozent für eine Loslösung der Krim von der Ukraine gestimmt haben, hat die Welt aufgeschreckt. Doch schon lange war die Unzufriedenheit der Krim-Bewohner mit der ukrainischen Politik mit Händen zu greifen. „Man hat das alte System vernichtet und kein Neues geschaffen“, sagt Tatjana, die Führerin. Die Ukrainer hätten die Nase voll von der Politik. „Ob Timoschenko oder Janukowitsch – alles das Gleiche.“ Von der erhofften Aufholjagd an den Westen haben nur wenige profitiert und in der Weltwirtschaftskrise verloren die Oligarchen bis zu 70 Prozent ihrer Milliardenvermögen. Von Milliarden können die normalen Menschen in der Ukraine nur träumen. Bei 300 Euro liegt der Durchschnittsverdienst, Tendenz sinkend. Die Arbeitslosenquote steigt beinahe täglich. Am ärmsten dran sind die Alten, die mit einer Rente von 1600 Griwna, nach dem aktuellen Wechselkurs etwa 120 Euro, auskommen müssen. Da hilft es auch wenig, dass die über 55 Jahre alten Frauen und Männer über 60 kostenlos öffentliche Verkehrsmittel benutzen können und bei den Arzneien nur die Hälfte zahlen. Operationen müssen auch sie selbst finanzieren. „Wie denn?“ fragt Tatjana. „Das Gesundheitssystem ist eine Katastrophe.“
Kein Wunder, dass immer mehr alte Menschen sich mit Arbeit ein kärgliches Zubrot verdienen – als Aufseher im Museum, als Straßenkehrer oder Klofrau. Viele vermieten im Sommer auch ihre Wohnungen an Touristen und kriechen in dieser Zeit bei den Kindern oder Verwandten unter. Die Wohnungen sind verhältnismäßig preiswert. Die meisten sind „privatisiert“. Nach der „Wende“ konnten die Mieter ihre Wohnungen für wenig Geld erwerben. Nun sind sie für Erhalt und Instandsetzung verantwortlich – nicht aber für das große Ganze. Deshalb wirken viele der Plattenbauten wie vertikale Flickenteppiche und im ganzen ziemlich marode. Noch schlimmer als solche Wohnsilos verunzieren allerdings schnell hochgezogene Betonskelette die Gegend, die nie fertig gestellt wurden und jetzt als Bauruinen an eine kurzlebige Boomzeit erinnern.
Eines dieser Skelette steht direkt gegenüber dem Hotel Jalta, einem Betonbunker mit 2000 Betten, der hoch über dem Schwarzen Meer an einen gestrandeten Dampfer erinnert. Auch drinnen ist alles gigantisch, der riesige Marmorsaal, das ebenso protzige wie ungemütliche Restaurant für die Hotelgäste, die weitläufige Lobby und die langen Gänge, an denen die Türen zu den Gästezimmern abgehen wie in einer Anstalt. Ähnlich dimensioniert sind auch die Zimmer, von deren Balkonen man seitlich aufs Meer blickt. Im Sommer ist das Hotel komplett ausgebucht, dann kommen vor allem die russischen Nachbarn in Scharen, um auf der Krim Sonne und Strand zu genießen ganz in der Tradition der russischen Aristokraten und Dichter.
Anton Tschechow, der in einem Haus nahe Jalta – heute Museum – Heilung von seiner Lungentuberkulose suchte, würde sich freilich wundern, wenn er heute nach Jalta käme. Am öffentlichen Strand macht sich Souvenirkitsch breit wie überall in der Welt. Es gibt Bierkneipen, eine Sushi-Bar und eine Spielhölle. Aus einem Restaurant plärrt ukrainischer Pop, in den Edelboutiquen, wo Gucci, D & G oder Prada in den Schaufenstern liegen, langweilen sich die bildschönen Verkäuferinnen. Auch der stylische Adidas-Verkaufstempel ist gähnend leer. Über die Promenade stöckeln junge Frauen auf schwindelerregend hohen Bleistiftabsätzen und zerren zwischendurch nervös an Röckchen, die den Po kaum bedecken. Eine Matrone trägt ihren Hund in der Handtasche spazieren, am Kiesel-Strand rösten halbnackte Frauen und Männer in der prallen Sonne. Hier zeigt man, was man hat – ziemlich ungehemmt – und auch das, was man nicht hat, dank Push-up-BH. Deshalb haben wohl auch die mobilen Fotostudios großen Zulauf, wo man sich mal schnell in einen Aristokraten verwandeln kann, in eine Prinzessin oder den Zaren. Die Kutsche steht schon bereit oder auch der Thron. Inszenierung ist alles. Auch nebenan am Motorrad-Stand, wo grade ein tätowierter Mittfünfziger seinen dicken Bauch in eine Hells Angels Kluft zwängt. Solch kleine Fluchten aus dem Alltag kann man sich beim Urlaub auf der Krim schon mal leisten. Und das ist auch bitter nötig, wie schon Tschechow wusste. „Eine Krise“, sagte der Dichter, „kann jeder Idiot haben. Was uns zu schaffen macht, ist der Alltag.“
Am Abend, wenn sich die Lichter der 83 000-Einwohner-Stadt im Schwarzen Meer spiegeln und der Mond wie eine Laterne am Himmel hängt, wenn die Nacht ihren Mantel gnädig über die Bauruinen breitet, scheint dieser Alltag weit weg. Dann birst die Strandpromenade vor Leben: Vor dem MacDonald am Leninplatz sausen Kinder in Gocarts halsbrecherisch zwischen den Fußgänger-Gruppen hindurch, jugendliche Inlinescater spielen Fangen, eine junge Frau dreht versonnen Pirouetten. Auf den Steinbänken knutschen Pärchen, eine einsame Frau herzt ihren Dackel, ein junger und ein alter Mann spielen Schach und nur im Schatten pirschen sich dunkle Gestalten, bewaffnet mit Plastiktüten und Taschen, an leere Flaschen heran. Ein Kreuzfahrtschiff liegt vor der Stadt und aus heiterem Himmel ergießt sich ein Feuerwerk übers nachtschwarze Meer und bringt die Stadt zum Funkeln.
Jetzt im Frühling ist das Schwarze Meer unter dem lichtblauen Himmel von einem klaren Türkis. Am Straßenrand stehen Palmen, blühen Ginster und Jasmin, Weinberge und Olivenhaine wechseln einander ab. „Schön bist du, Tauriens Gestade“, schwärmte einst Alexander Puschkin über die Krim. Tatsächlich kann es die Halbinsel, wo der Sage nach Agamemnons Tochter Iphigenie als Priesterin der Göttin Artemis diente, an landschaftlicher Schönheit mit der Cote d’Azur aufnehmen. Bizarre Felsen ragen über dem Meer auf, als hätte einer der urzeitlichen Giganten sein Spielzeug fallen gelassen. Krokodilfelsen heißen sie, Katzenfelsen und Bärenberg – und genauso sehen sie aus. Das schlossähnliche Schwalbennest, ein Anfang des letzten Jahrhunderts erbautes Privathaus, heute Restaurant, thront so malerisch auf einem steil ins Meer abfallenden Felsen wie auf den vielen Postkarten, auf denen dieses Wahrzeichen der Krim abgebildet ist. Nicht ganz so fotogen ist die ehemalige Regierungsdatscha Gorbatschows bei Kap Sarytsch, wo der entmachtete Präsident drei Tage lang unter Hausarrest stand. Datscha ist natürlich eine Untertreibung. Die großzügige Villa mit dem roten Dach hat bis heute einen eigenen Hubschrauberlandeplatz.
Man braucht keinen Hubschrauber, um die Schwarzmeer-Küste bei Jalta von oben betrachten zu können. Möglich macht’s auch die 50er-Jahre-Gondel auf den Ai Petri, den Berg des heiligen Petrus, der mit seinen schroffen Felszacken an die Dolomiten erinnert. Nach der Mittelstation schwebt die Gondel halsbrecherisch über dem Abgrund, bis sie knarrend in der Bergstation auf dem senkrecht abfallenden Felsen einläuft. Oben auf dem Plateau haben Krimtartaren ein Lager aufgeschlagen mit Verkaufs- und Schaschlik-Ständen. Die muslimische Minderheit, die erst nach Ende der Sowjetunion aus dem sibirischen Exil in ihre Heimat auf der Krim zurückkehren konnte, fühlt sich derzeit zwischen allen Fronten. Sie standen bislang treu zur Ukraine. Nach dem Referendum fürchten die 300 000 Tataren um ihre Existenz, die sie sich oft mühsam wieder aufgebaut haben.
Hinter dem Lager führt ein Weg im Zickzack weiter in die Höhe bis hin zu einem Dreifuß, der in der Luft zu schweben scheint. Hunderte haben hier ihre Wünsche in Form von Bändern und Schleifen hinterlassen. Der Blick in den Abgrund dahinter und hinunter auf das winzig kleine Häusergewirr von Jalta macht Schwindeln. Auf der anderen Seite schiebt sich ein Gipfelkreuz ins Blickfeld – und eine rote Fahne. In der Ferne verschwimmt das Türkis des Meeres mit dem Blau des Himmels. Davor kann man das Hotel Jalta ahnen, das von hier oben fast filigran wirkt – wie ein Krim-Palast für Touristen. So verschieben sich die Relationen, wenn man von hoch droben hinunter schaut auf das alltägliche Leben.

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