Die französischen Kritiker kürten Drago Jancars Roman „Die Nacht, als ich sie sah“ zum besten fremdsprachigen Roman des Jahres, auf der ORF-Bestenliste steht das Buch des slowenischen Autors, das ins Jugoslawien des Jahres 1944 zurückführt und auf einer wahren Begebenheit beruht, im Dezember auf Platz 1. Zu Recht: Jancar hat einen raffiniert konstruierten Roman um das Schicksal der jungen, kapriziösen Veronika geschrieben, in dem es um Liebe und Verrat geht, um die Lust am Leben in Zeiten des Krieges und um die seelische Verrohung der Kämpfer auf allen Seiten.
In einer Winternacht holt eine Gruppe von Tito-Partisanen die junge Frau und ihren Mann, der sowohl zu den Deutschen wie auch zu den Partisanen Kontakt hält, aus ihrer Burg in Oberkrain. Seither verlieren sich die Spuren der beiden, aber es gibt Gerüchte zu ihrem Verschwinden. Aus den Erinnerungen von fünf Personen, die Veronika auf unterschiedliche Weise nahe waren, setzt Jancar das Bild einer lebenshungrigen aber auch naiven Frau zusammen. Die Reihenfolge dieser sehr persönlichen Sichtweisen bringt immer neue Facetten und „Wahrheiten“ ans Tageslicht und führt schließlich zur Aufklärung des Falles.
Am wenigsten kann Major Stevo dazu beitragen. Der Kavallerieoffizier des serbischen Königs, um dessentwillen Veronika für einige Zeit ihren Ehemann verließ, sitzt 1945 im britischen Lager in Italien und verzweifelt an seiner Welt. Auch Veronikas alte Mutter, die zweite Erzählerin, hat Probleme mit der rauen Gegenwart und lebt lieber in ihren Erinnerungen. Mehr Hintergründe liefert der aus Bayern stammende Stabsarzt, der unwissentlich eine fatale Rolle in dem Drama spielte. Davon erzählen die Küchenhilfe Jozi und der Denunziant Jeranek, der als Bauernbursche in der Burg Hilfsarbeiten verrichtete und – ohne es zu wissen – mithilfe des deutschen Arztes von Veronika aus der Getapohaft befreit wurde.
Meisterhaft verwebt der 1948 geborene Jancar Privates und Politisches, Inneres und Äußeres zu einer neuen Erzählung über Täter und Opfer, zu einer neuen „Wahrheit“, die nur zeigt, wie brüchig Überzeugungen sein und welch verhängnisvolle Folgen Fehleinschätzungen und Feigheit haben können. Dabei kratzt Jancar auch am Mythos des heldenhaften Widerstands der Tito-Partisanen. Denn auch in der Rückschau auf die Vergangenheit gibt es keine einfachen Wahrheiten. Politische Geschichte, das zeigt sein außergewöhnlicher Roman, wird nur im Zusammenspiel verschiedener Sichtweisen erklärbar.
Info: Drago Jancar, Die Nacht, als ich sie sah. Folio, 188 S., 19,90 Euro, www.folioverlag.com
08Dez. 2015