Speyer: Privilegien, Pogrome, Deportation – 1000 Jahre jüdische Geschichte

Sie ist alt, uralt. Die Mikwe in Speyer gilt als das älteste noch ursprünglich erhaltene jüdische Ritualbad nördlich der Alpen. Eine steile Treppe mit moosbewachsenen Stufen führt hinab zum Wasser, das verlockend grün schimmert und so sauber ist, dass man es trinken könnte. Es musste Quell- oder Trinkwasser sein, wenn Juden sich reinigen wollten: nach einer Krankheit, der Monatsblutung der Frau oder einer Entbindung, vor der Hochzeit oder beim Übertritt ins Judentum. 1120 ließen die Speyrer Juden, die 1084 auf Einladung des Bischofs in die Stadt gekommen waren, die Mikwe bauen – neben der Synagoge, deren Reste im Jahr 2000 freigelegt werden konnten.
Sie ist neu, brandneu. Die moderne Synagoge, die erst 2011 im Beisein der Autorin Christa Wolf eingeweiht wurde. Mit den schmalen hohen Fenstern öffnet sie sich einladend nach außen bis hinein in den Park, in dem die Skulptur eines siebenarmigen Leuchters steht.

1084, 2011 – zwischen diesen Daten spielte sich in Speyer jüdische Geschichte ab. Zeiten, in denen das jüdische Leben prosperierte, weil die Juden im Mittelalter Privilegien genossen und nach der französischen Revolution gleichberechtigte Bürger waren, wechselten sich mit Verfolgungen und Pogromen ab, die im Holocaust des 20. Jahrhunderts kulminierten. Mit der Deportation der letzten Speyrer Juden 1940 erlosch scheinbar die große jüdische Tradition in Speyer. Doch so wie die Juden früher nach den Pogromen zurückkamen, so kamen auch nach der Katastrophe des Dritten Reiches wieder Juden nach Speyer, die meisten aus Russland. Heute umfasst die kleine jüdische Gemeinde wieder 200 Menschen, zu Hoch-Zeiten waren es über 500.
Jutta Hornung, die im Bistumsarchiv von Speyer arbeitet, möchte bei ihren Führungen den Bogen schlagen von den ersten Juden, die in der Stadt lebten und steinerne Zeugnisse wie die Mikwe hinterließen bis zu denen, die bis zur Nazizeit angesehene Bürger Speyers waren und an die heute nur das Holocaust-Denkmal erinnert – mit einem aus den Fugen geratenen Davidstern.
Sie waren Ärzte, Fabrikbesitzer, Anwälte, viele von ihnen auch deutschnational gesinnt. Sie wohnten mitten in Speyer, wo auch ihre neuzeitliche Synagoge stand. Das Gotteshaus fiel der Reichspogromnacht zum Opfer. Auf dem Platz des jüdischen Tempels steht heute ein Konsumtempel, der Kaufhof. 1938, so erzählt die kundige Stadtführerin, die jüdische Schicksale dem Vergessen entreißen will, habe die Feuerwehr zugeschaut, wie die Synagoge abbrannte und nur die umliegenden Häuser „bewässert“. Danach wurde die jüdische Gemeinde verpflichtet, „die Ruine“ abzutragen. Im selben Jahr wurden jüdische Männer im Amtsgericht interniert und mussten auf ihr Vermögen verzichten, ehe sie nach Dachau deportiert wurden. Zwar kamen sie noch einmal nach Speyer zurück wie ihre zeitweise aus der Stadt vertriebenen Frauen und Kinder – aber 1940 machten die Nazis Ernst. Wer der „Schutzhaft“ entging, wie die Deportation euphemistisch genannt wurde, wanderte aus. Manche begingen aus Verzweiflung Selbstmord.
Jutta Hornung kennt einige Schicksale wie die von Bertold Böttigheimer, der versteckt in der Stadt überlebt hat. Böttigheimer hatte den ersten Autoverleih in Deutschland gegründet und war mit einer evangelischen Christin verheiratet. Nachdem er untergetaucht war, ließ sich seine Frau auf Druck der Nazis von ihm scheiden. Seine Odyssee im Speyrer Untergrund führte den Mann durch sieben Familien. Auch nach dem Ende des Krieges blieb er in der Stadt und heiratete seine Frau noch einmal. Nach dem Tod blieben sie vereint, weil man auf die Idee kam, am jüdischen Friedhof das Grab der nicht-jüdischen Frau durch eine Buchsbaumhecke abzutrennen.
Im Gegensatz zu Bertold Böttigheimer hat Betty Blum das Dritte Reich nicht überlebt. „Sie war eine emanzipierte Frau“, sagt Jutta Hornung voller Bewunderung, hatte die höhere Schule absolviert und war nach einem England-Aufenthalt Lehrerin geworden. Nach dem Tod der Eltern führte Betty deren Eisenwarenhandel, bis das Geschäft 1935 arisiert wurde. 1938 wurde ihr Bruder von SA-Schergen zusammengeschlagen und starb an den Verletzungen. Betty Blum selbst starb im Krankenhaus von Ludwigshafen an einer ungeklärten Krankheit. Noch schlimmer traf es Rosa Metzger, die in vier Jahren sieben Konzentrationslager durchlitt, ehe sie in Ausschwitz vergast wurde. Auch sie muss eine beeindruckende Frau gewesen sein, die schon damals gegen die Konventionen rebellierte und unverheiratet mit einem Mann zusammenlebte.
Fast zu jedem zweiten Haus in Speyers guter Stube, der verkehrsberuhigten Maximilianstraße, könnte Hornung eine Geschichte erzählen. Lazarus Scharff etwa war 87 Jahre, als er deportiert wurde; Alfred Kahn kam mit 16 nach Dachau. Er floh über die Niederlande, Belgien und Luxemburg, wurde von der SS aufgegriffen und nach Gurs deportiert, wo er im Kinderchor sang. Kahn entkam noch einmal aus dem KZ und floh nach Wisconsin, wo er als Pianist Karriere machte. Nach Jahrzehnten kam er zurück nach Speyer.
Wie er kommen immer mehr Juden, die in den USA eine neue Heimat gefunden haben, zurück nach Deutschland, um nach den Wurzeln ihrer Familie zu suchen. Im Dreieck der Schum-Juden – Speyer – Schpira (Sch), Worms – Warmaisa (U) und Mainz – Magenza (M)- stoßen sie auf viele Zeugnisse jüdischen Lebens. Im Judenhof zu Speyer etwa, einst mit Männer- und Frauen-Synagoge sowie der Mikwe kulturelles Zentrum der jüdischen Gemeinde, kann man im Museum alte Grabsteine und Münzen sehen und erfährt, wie bedeutend der Beitrag der Juden zur Geschichte der Stadt war. An die jüdische Gelehrsamkeit erinnert seit einem halben Jahr im Garten die Skulptur der „Weisen von Speyer“. Vor 800 Jahren galten die Talmud-Lehrer als die „Gelehrtesten der Gelehrten“. Zusammen mit den anderen Schum-Städten Worms und Mainz bewirbt sich Speyer übrigens mit seinem jüdischen Erbe um die Anerkennung als Unesco-Weltkulturerbe.

Info:
Informieren. Tourist-Information Speyer, Maximilianstraße 13, 67346 Speyer, Tel. 06232/142392, E-Mail: touristinformation@stadt-speyer.de, www.speyer.de
Wohnen. Zentrumsnah und sehr gemütlich ist das Hotel Goldener Engel, Mühlturmstraße 5, 67346 Speyer, Tel. 06232/13260, www.goldener-engel-speyer.de
Anschauen. Natürlich den Kaiserdom, die größte noch erhaltene romanische Kirche der Welt und Unesco Weltkulturerbe. Unbedingt sehenswert die Krypta, die größte romanische Säulenhalle Europas mit den Kaiser- und Königsgräbern. Eintritt zur Krypta für Erwachsene 3,50, ermäßigt 1 Euro.
Das Altpörtel, einst Teil der mittelalterlichen Stadtbefestigung, ist eines der höchsten Stadttore Deutschlands. Im Inneren des Turmes findet sich viel Stadtgeschichte. Seit Sommer 2014 auch eine Dauerausstellung zur Geschichte des von 1527 bis 1689 in Speyer residierenden obersten Gerichts des Heiligen Römischen Reiches (Reichskammergericht). Schön ist auch der Blick von oben auf die Maximilianstraße. Eintritt 1,50 Euro für Erwachsene.
Den Judenhof, Kleine Pfaffengasse 20/21, mit den Resten der Synagoge, der Mikwe und dem Museum SchPira. Eintritt für Erwachsene 3 Euro, ermäßigt 1,50 Euro.
Die Dreifaltigkeitskirche, die älteste der fünf protestantischen Kirchen in Speyer – mit einer original erhaltenen Inneneinrichtung aus Holz ein Barockjuwel. Derzeit allerdings wegen Restaurierung geschlossen.
Speyer-Card. Mit der Tages- oder Mehrtageskarte kommt man kostenfrei in den Altpörtel und den Judenhof. Es gibt Ermäßigungen bei Stadtführungen sowie bei so beliebten Attraktionen wie dem Technik Museum und dem Sea Life. Die Tageskarte kostet vier Euro pro Person, die Familienkarte zehn Euro. Ab zwei Übernachtungen gibt es die Drei-Tage-Karte bei Partnerhotels kostenlos: http://www.speyer.de/sv_speyer/de/Tourismus/Service/SpeyerCARD/ 

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