Ein blauer Himmel wölbt sich über dem dunkelgrünen Tann. Vögel zwitschern, der Bach plätschert, Schmetterlinge tanzen zwischen weißen und lila Blüten, alles ist friedlich. Der Steig hinauf zum Wasserfall windet sich durch die Bäume und ist nicht allzu steil. Eine italienische Großfamilie mit zwei Hunden kreuzt unseren Weg, eine junge Frau, das Baby im Tragetuch. Wir überholen zwei ältere Männer, die sich angeregt unterhalten. Das Rauschen des Wasserfalls hören wir, ehe wir ihn sehen. Mit einem mächtigen weißen Strahl schießt der Bach durch die Felsen. Nicht mehr lang, dann ist unser Ziel erreicht, die Bergalm, ein idyllisches Fleckchen im Ondratttal in Südtirol.
Großfamilie auf der Alm
Pächterin Andrea, blond und adrett, wird von einer ganzen Schar junger Mädchen unterstützt. Die 56-Jährige hat während der Ferien einen Teil der Großfamilie bei sich aufgenommen und freut sich über die helfenden Hände. Denn die Arbeit hier oben ist hart. Der Tag beginnt in aller Früh mit dem Melken der Kühe und dem Käsen. Schließlich sind Graukas und Buttermilch bei den Wanderern beliebt. Den ganzen Tag über herrscht Betrieb auf der Hütte. Vor allem an einem Tag wie heute. Die Kinder der italienischen Familie sind schon im Baumhaus verschwunden, ein paar Kids spielen am Bächlein oder hüpfen auf dem Trampolin, und ein kleiner Junge streichelt das Meerschweinchen, das hier zu Hause ist. Auch die beiden älteren Herren sind inzwischen eingetroffen und gönnen sich ein Bier.
Neue Bahn auf den Rosskopf
Das Jaufental in Südtirol ist ein ideales Wandergebiet für alle, die nicht ganz hoch hinaus wollen. Natürlich könnte man auch hier Gipfel bezwingen, zum Beispiel den 2369 Meter hohen Bock erklimmen. Aber die meisten Wanderer bleiben im Hochtal. Ganz anders am Rosskopf, dem kleinen Wander- und Skigebiet von Sterzing. Die neue Kabinenbahn erspart den schweißtreibenden Aufstieg. Von der Bergstation aus ist es nur ein kurzer, steiler aber lohnender Weg zum Gipfelkreuz mit einem sensationellen Rundblick. Wer schwindelfrei ist, kann von hier aus eine Gratwanderung machen.
Wunschglocke und Himmelsschaukel
„Nur für Experten“ warnt ein Schild, was offensichtlich die meisten abschreckt. Auch wir wandern lieber gemütlich zur Wunschglocke nahe der Bergstation. Auf der Schaukel daneben hat man das Gefühl, in den Himmel zu fliegen. Herrlich! Immer wieder ertönt die Glocke, mal leise, mal laut. „Du musst fest draufschlagen,“ ermahnt ein Mann seine Frau. Dann greift er selbst nach dem schweren Hammer: Doing hallt es über die Weide, auf der ein schwarzer Hengst über eine kleine Herde Haflinger wacht. Neugierig kommen zwei Fohlen näher, schnuppern am Zaun, der Wunschglocke und Schaukel umschließt, lassen sich streicheln.
Bergab mit dem Mountain Coaster
Ein Wanderer hat Mühe, seinen Hund im Zaum zu halten. Auch einige Eltern können nur mit viel Mühe ihre Kinder von den Pferdchen loseisen. Oder durch das Versprechen auf eine Fahrt mit dem Mountain Coaster, der neuen Sommerrodelbahn. Mutige sausen mit bis zu 40 Stundenkilometern hinunter zur Mittelstation. Doch die meisten gehen es eher gemütlich an. Wir verzichten auf das rasante Vergnügen, wandern lieber über einen gut markierten Steig durch blühende Wiesen und freuen uns an immer neuen Ausblicken auf die Berggipfel, die sich hintereinander auftürmen bis zum Horizont.
„Fuggerstadt“ Sterzing
Drunten in Sterzing erzählen die schönen Fassaden der von Zinnen gekrönten Häuser der „Neustadt“ von einer wechselvollen Geschichte, von Handel und Wandel. Hier haben auch die reichen Augsburger Fugger ihre Spuren hinterlassen. Das Geld kam von den Bergwerken am Schneeberg und in den umliegenden Tälern. In der lebhaften Fußgängerzone steht noch ein „Fuggerhaus“, und bis heute trägt Sterzing den Beinahmen „Fuggerstadt“, wie das bayerisch-schwäbische Augsburg, die Heimat der Fugger. Beide Städte verband ein reger Handel. Kein Wunder, dass ein unbekannter Augsburger Künstler das „Lusterweibchen“ im gotischen Ratssaal des Rathauses schuf – nach Plänen von Jörg Kölderer, dem Hofbaumeister Kaiser Maximilians und Erbauer des Rathauses: Lucretia mit Dolch und Leuchter.
Auferstehungsreigen in der Spitalkirche
Eher unauffällig wirkt gegen den Prachtbau des Rathauses die Spitalkirche Heilig Geist. Doch im Inneren birgt sie einen wahren Fresken-Schatz, der erst 1939 bei Renovierungsarbeiten wieder entdeckt wurde. Der Südtiroler Maler Hans von Bruneck hatte zwischen 1400 und 1415 den Kirchenraum mit Szenen aus der Bibel ausgemalt. Ein großartiges Bilderbuch, in dem die Menschen damals auch lesen konnten, was ihnen nach dem Tod blüht. Da stemmen sich nackte Leiber aus den Gräbern, ein gehörnter Teufel greift schon nach einem. Und während die einen zum Licht geführt werden, bündelt ein Erzengel die armen Sünder, um sie in den Höllenrachen zu werfen, ein Drachenmaul mit scharfen Zähnen. Auch zwei Bischöfe und einen Papst ereilt dieses Schicksal…
Schutzheiliger Christopherus
Vor solchen Aussichten bewahre uns Christopherus, der Schutzheilige der Reisenden. Auf dem Fresko an der kleinen Pfarrkirche Sankt Ursula in Mittertal, einem der ältesten in Südtirol, trägt er das Christuskind übers Wasser. Hier wäre es der kühle Gebirgsbach Gurgl. Sein Rauschen begleitet unseren Schlaf im Naturhotel Rainer, und morgens um 7 Uhr wecken uns die Glocken der Kirche.
Naturliebe und Nachhaltigkeit
Hannes Rainer, der Juniorchef des Hauses, ist da sicher schon auf. Denn der Bergbauernsohn mit dem dunklen Haarschopf und dem gepflegten Vollbart ist das Arbeiten von Klein auf gewohnt. Bis zu seinem 14. Geburtstag hütete er auf der Alm des Großvaters die Ziegen – war beschäftigt von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Damals, sagt der 41-Jährige, habe er gelernt, die Natur zu lieben. Und diese Naturliebe setzt er im Naturhotel um, das so nachhaltig wie möglich aufgestellt ist – mit Holz aus dem eigenen Wald, Stein und Glas, mit Wassersparenden Duschköpfen und Wärme aus dem eigenen Heizkraftwerk.
Gourmetkoch mit vielen Talenten
Hannes setzt auf den Kreislauf der Natur – auch in seiner Gourmet-Küche. Gelernt hat er das Kochen bei renommierten Köchen in Südtirol und in Bayern. In seiner eigenen Küche aber will er vieles anders machen, will weder Shrimps noch Kaviar. Dafür Frisches vom väterlichen Hof, Schüttelbrot von der Alm, den Hirsch aus dem Wald, Fleisch und Fisch aus eigener Zucht. „Ich muss wissen, wo die Produkte herkommen“, sagt der Hannes und dass er sich freue, wenn Freunde ihn mit Gemüse und Obst beliefern. Künftig sollen seine Kreationen auf eigener Keramik zur Geltung kommen. Den Brennofen hat er schon, den Ton auch, und wenn er Zeit hat, übt er sich im Töpfern. Der Mann ist ein echtes Naturtalent und ein Pionier der Nachhaltigkeit.
Pionier mit Gastgeber-Gen
Womöglich sind die abgelegenen Täler in Südtirol ein guter Boden für solche Talente. Auch Franz Hinteregger – kurze Lederhose, Typ Macher – ist so ein Pionier. 1982 hat er das erste Hotel im damals touristisch noch weitgehend unterentwickelten Lüsen aufgemacht. Das Gastgeber-Gen hat der Bauernsohn wohl vom Großvater, der nicht nur die erste Schutzhütte auf der Lüsner Alm baute, sondern 1970 mit einer Jugendherberge den Grundstein für den Tourismus legte.
„Ich hab‘ Tag und Nacht gearbeitet“, erinnert sich der Franz an die erste Zeit. Aber er kam ja von einem Hof, an dem Arbeit an der Tagesordnung war – und Armut. Als er sich 1985 ein eigenes Auto kaufen konnte, war er stolz, aber sein Hotel hat er von Anfang an auf Wander-Kundschaft eingestellt, ab 2000 wurde es zum Naturhotel. „Ich war immer a bisserl a Vorreiter“, sagt der 62-jährige Vater von drei Töchtern und einem Sohn, und dass er nichts von einem „immer höher, schneller, weiter“ halte.
Im Bademantel auf dem Saunapfad
Das Multi-Talent – er spielt Alphorn, Posaune, Bass, Ziehharmonika, Drehleier und Maultrommel, war 25 Jahre Präsident des Tourismusverbands und zehn Jahre Gemeinderat und engagiert sich fürs Heimatmuseum – ist überzeugt davon, dass es besser ist, „zu erhalten, was wir haben“. Lüsen sieht er als Gegenentwurf zum touristisch übererschlossenen Grödner Tal. Vor 19 Jahren, erzählt er, „musste ich für die Natur kämpfen“. Auch der Franz ist als Hütebub aufgewachsen und hat dabei „ein Gefühl für die Natur“ entwickelt. Das merkt am auch im Hotel, wo die Gäste auf dem Saunapfad einen Spaziergang im Bademantel machen und der Natur nahe kommen können. In der Schwitzhütte macht Schamanin Christina mit traditionellen Praktiken vertraut. Statt Schwimmbad gibt es einen Badeteich, und für das angenehme Innenklima im Haus sorgt eine Hackschnitzel-Heizung.
Die Zeiten ändern sich
Ortschronist Paul Detomaso – schmal, grauhaarig – schätzt das Engagement seines Musikvereins-Kameraden. Dem ehemaligen Lehrer sieht man seine 86 Jahre nicht an. Aber er weiß, was sich in den Jahren verändert hat, seit er als Lehrer nach Lüsen kam. Das war 1960 und damals hatte jede Familie fünf bis acht Kinder, erinnert er sich. Noch 1973 gingen 176 Kinder in die Ortsschule, 2022 waren es nur noch 81. Und einen eigenen Pfarrer hat Lüsen seit zwei Jahren auch nicht mehr. Geht man mit dem Paul durch Lüsen, grüßen ihn die meisten. Viele waren noch seine Schüler, auch die Bürgermeisterin.
Katastrophen und Hilfsbereitschaft
1603 Einwohner hat Lüsen heute. 893 wurde der Ort erstmals genannt – in der zweitältesten Urkunde von Südtirol, weiß der Chronist. Er weiß auch, dass Lüsen immer wieder überschwemmt wurde, dass der Ort während der Pest beinahe ausgestorben wäre und dass bei einem Großfeuer 1921 das ganze Dorf brannte, der Kirchturm aufs Kirchendach stürzte und 29 Häuser zerstört wurden. Es dauerte, bis die Schäden behoben, der Wiederaufbau geschafft, die Kirche wieder hergestellt war – samt neuem Altarbild. Als dann knapp 50 Jahre später wieder eine Überschwemmung den Ort heimsuchte, kam Hilfe aus dem Landkreis Marburg-Biedenkopf, mit dem Lüsen bis heute freundschaftlich verbunden ist.
Freundschaften fürs Leben
Der Paul erinnert sich noch an die dreiwöchigen Ostseeferien, die Marburg-Biedenkopf für Lüsener Buben und später auch für Mädchen finanzierte. Für die meisten war es das erste Mal, dass sie das Meer sahen. Damals entstanden Freundschaften fürs Leben, und heute kommen Gäste aus Marburg-Biedenkopf, um sich in der Lüsner Bergluft zu erholen.
Kurz informiert
Anreisen. Nach Mittertal von Sterzing Richtung Jaufenpass, Abzweigung Jaufental.
Nach Lüsen über Brixen Richtung Würzjoch.
Wohnen. Im Naturhotel Rainer, Jaufental Mittertal 48, 39040 Ratschings, kostet das DZ mit Frühstück ab 250 Euro, Tel. 0039/0472/765355, www.hotel-rainer.it
Im Lüsner Hof, Rungger Str. 20, 39040 Luson, zahlt man pro Person für die Zirmsuite ab 172 Euro inkl. Dreiviertel-Pension, Tel. 0039/0472/413633, www.luesnerhof.it
Rosskopf. Die Berg- und Talfahrt bis nach oben kostet für Erwachsene 29 Euro, Kinder zahlen 20 Euro. Es gibt auch Familienkarten: Zwei Erwachsene und zwei Kinder zahlen 59 Euro. Wert den Mountain Coaster nutzen will zahlt als Erwachsener 34 Euro, als Kind 24 Euro: www.rosskopf.com/
Sterzing. Die Spitalkirche zum Heiligen Geist ist täglich von 8.30 bis 12 und von 14.30 bis 18 Uhr geöffnet. Am Samstagnachmittag und am Sonntag ist sie geschlossen. Der Ratssaal im Rathaus kann nach Voranfrage oder bei einer Führung besichtigt werden: www.sterzing.com
Informieren. IDM Südtirol, Tel. 0039/0471/094000, E-Mail: info@suedtirol.info, www.suedtirol.info/de/de
Hinweis. Die Recherche wurde unterstützt von IDM Südtirol und dem Lüsnerhof