Dem Papst entgeht man nirgendwo in Krakau. Nein, nicht dem jetzigen Heiligen Vater, sondern seinem seligen Vorgänger. Der Flughafen ist nach ihm benannt, es gibt ihn als Bronzestatue auf dem Wawel und als Salzdenkmal in Wieliczka und es gibt eine Papstroute durch Krakau auf seinen Spuren. Papst Johannes Paul II. war schließlich Pole, er wurde als Karol Józef Wojtyła in einem Dorf bei Krakau geboren, hat an Krakaus traditionsreicher Jagiellonen-Universität studiert und im Untergrundtheater gespielt. 1946 empfing er die geheime Priesterweihe im Salzbergwerk Wieliczka, seine Primiz feierte er in der Gruft der Kathedrale auf dem Wawel – in Gesellschaft berühmter Toter. Als Erzbischof und später als Kardinal von Krakau trat er unerschrocken für Glaubensfreiheit ein und engagierte sich für die deutsch-polnische Aussöhnung.
Der Wojtyła-Papst ist ein Held so recht nach dem polnischen Herzen.
Einer, der möglichst schnell auch heilig gesprochen werden sollte. Da
sind sich die Krakauer einig. Anders als bei einem anderen Polen, der
nun auf dem Wawel begraben liegt, in der Gruft der Krönungskirche, unter
Polens Herrschern und Helden. Als Präsident Lech Kaczynski und seine
Frau Maria, die bei einem bis heute ungeklärten Flugzeugabsturz ums
Leben kamen, in der Kathedrale auf der Burg neben dem Nationalhelden
Józef Piłsudski beigesetzt wurden, protestierten Hunderte von Menschen
gegen die Überhöhung eines bis dahin umstrittenen Präsidenten.
Kunsthistorikerin Sylwia Jeruzal, die Touristen durch ihre Stadt führt,
kann es immer noch nicht fassen, wie man Kaczynski auf eine Stufe mit
Freiheitshelden und Königen stellen konnte. Bis heute entzweit der
Streit die Polen. Frische Blumen liegen auf dem Sarkophag, der für
Kaczynski-Anhänger zum Pilgerziel geworden ist. Ganze Familien posieren
vor dem Namenszug fürs Fotoalbum.
Womöglich wird die Kaczynski-Beisetzung bald zu einem der Mythen werden,
die sich um Polens Krönungskathedrale ranken. Von Adams Rippe, die
angeblich am Eingang hängt, über den königlichen Kiefer, der in einem
Kindersarg ruhen soll bis zur Rose, die an die große Liebe des letzten
Jagiellonen Sigismund II. August erinnert, der den Geist seiner allzu
früh und unter merkwürdigen Umständen verstorbenen Gemahlin Barbara
Radziwiłł beschwören ließ.
Nicht nur die Kathedrale ist ein Platz für Mythen und Legenden, die
ganze Stadt scheint ein guter Nährboden zu sein. Auch um die
Marienkirche mit ihren unterschiedlich hohen Türmen ranken sich
Geschichten. Zwei Brüder, so erzählt eine, sollen im Wettstreit die
Türme gebaut haben. Der ältere Bruder war mit seinem 81 Meter großen
Turm schnell fertig. Um zu verhindern, dass der Turm des Bruders ebenso
hoch würde, erstach er den Jüngeren mit einem Dolch. Alsbald meldete
sich jedoch sein Gewissen und er stürzte sich vom eigenen Turm. Der
mörderische Dolch hängt bis heute in den Tuchhallen – allen zur Warnung.
Den Turm kann man besteigen und von oben auf die Dächer des
Weltkulturerbes Krakau hinunterschauen.
Oder man kann den Turmbläser besuchen, der von der Bläserstube in 54
Metern Höhe jeweils zur vollen Stunde das „Hejnal“ spielt, ein
Alarmsignal aus längst vergangener Zeit, das abrupt abbricht. Es
erinnert an den Turmbläser, der bei einem Tartarenangriff von einem
Pfeil getroffen wurde, während er Alarm gab. So hat alles in Krakau
seine Geschichte.
Wer den größten Schatz des Gotteshauses sehen will, muss allerdings in
die Kirche gehen. An dem beeindruckenden Wandelaltar hat der Nürnberger
Künstler Veit Stoß mit seiner Werkstatt zwölf lange Jahre gearbeitet.
Seine zwei Gesichter zeigt der Altar zur Freude der Besucher jeden Tag
aufs Neue: Punkt 11.50 Uhr öffnet eine Nonne in einer schlichten
Zeremonie die Alltagsflügel und enthüllt den Hauptschrein mit seinen
überlebensgroßen, Gold glänzenden Figuren. Dann geht ein Raunen durch
die Menge der Touristen, die andächtig den Worten ihrer jeweiligen
Führer lauschen, manche haben vor lauter Rührung Tränen in den Augen.
Bis abends um 18 Uhr ist zu sehen, wie einer der Apostel die sterbende
Muttergottes auffängt. Dann werden die Seitenflügel wieder geschlossen.
An der Fassade erinnert an Gedenkstein an Johannes Paul II. Auch weiter
draußen, dort wo einst das jüdische Getto war, in Podgórze, finden sich
Erinnerungen an den polnischen Papst. In Schindlers Fabrik, seit einem
Jahr Museum, werden seine Jahre in der Untergrunduniversität und sein
Engagement im polnischen Widerstand thematisiert. Dem Namensgeber der
Fabrik, Oskar Schindler, der 1200 Juden vor der Vernichtung gerettet
hat, sind in der multimedialen Geschichtsinszenierung zwei Räume
gewidmet. Auch der Lebemann und Unternehmer, den Steven Spielbergs Film
„Schindlers Liste“ unsterblich machte, gehört zu den Mythen Krakaus. Im
ehemaligen Sekretariat der Emaillewarenfabrik erzählen Fotos, Dokumente
und Originalmöbel vom bewegten Leben des NSDAP-Mitglieds und
Menschenretters. Ein Würfel voller Blechtöpfe, -schüsseln und -tellern,
macht klar, was hier produziert wurde. Auf weißen Wänden in einem kahlen
Raum stehen die Namen der 1200 Arbeiter, denen Oskar Schindler – auch
mit Hilfe des jüdischen KZ-Schreibers Mietek Pemper, der im Juni
91-jährig in Augsburg gestorben ist, das Leben gerettet hat. „Wer ein
Leben rettet, rettet die ganze Welt“, steht auf der Gedenktafel neben
der Pförtnerloge – ein Zitat aus dem Talmud.
Jüdisches Leben ist in diesem Industriegebiet, wo neben Schindlers
Fabrik das erste polnische Museum für Gegenwartskunst den Bogen zur
Moderne schlägt, nur im Museum wahrnehmbar.
Anders im Stadtteil
Kasimierz. Hier atmen die alten Häuser, die Synagogen und der Friedhof
noch den Geist eines „Schtetls“. Hebräische Hausinschriften erzählen von
den ehemaligen Bewohnern, aus den Kneipen erklingt Klezmer-Musik und
über den alten jüdischen Friedhof, wo längst Gras über die Gräber
gewachsen ist, schlendern Männer mit der traditionellen Kippa auf dem
Kopf. Das alles kommt den Besuchern bekannt vor. Kasimierz ist
Spielberg-Land. Hier, nicht im Industriegebiet Podgórze, hat er seinen
Film gedreht – und mit ihm Krakau einen neuen Helden beschert. Wer weiß,
vielleicht wird auch Oskar Schindler dereinst noch selig gesprochen…