In Laurins Schneereich

Es ist noch früh am Morgen, die Pisten sind makellos, wir sind die ersten, die ihre Bögen in den jungfräulichen Schnee schneiden. Die Spitzen des Latemar schälen sich grade aus einer dicken Wolkendecke, durchs vergraute Blau spitzelt eine blasse Wintersonne. Es gibt keine Wartezeiten an den Liften, keinen Stau vor der Abfahrt. Wir teilen uns das Skigebiet von Obereggen nur mit einer Handvoll Skifahrer. Ein Glück, dass das unstete Wetter die meisten wohl davon abgehalten hat, auf die Piste zu gehen!

Freilich, kalt ist es. Nichts da von Sonnenskilauf. Dafür knirscht der Schnee unter den Skiern und die Bäume tragen Zebrastreifen in grünweiß. 48 Pistenkilometer sind hier im Ski Center Latemar Obereggen präpariert, grenzüberschreitend von Südtirol bis ins Trentino. Die meisten sind rot, also mittelschwer, und lassen sich mühelos bewältigen. Und selbst die schwarzen Pisten wie die Muro am Agnello-Lift oder auch die steilste Piste am Zanggen sind bei diesen fantastischen Schnee-Verhältnissen ein Genuss. Für alle, die am liebsten große Sprünge machen, gibt es jetzt auch einen Snowpark mit der einzigen Halfpipe der Provinz Bozen. 
Wir aber machen lieber einen Einkehrschwung. Alexander, unser Skilehrer, hat da einen Geheimtipp: Die Weigl Schupf, eine winzige Hütte, in der man eng zusammenrücken muss und auch gleich ins Gespräch kommt. Hans aus Duisburg scheint Stammgast hier zu sein, ebenso wie seine Freunde, die zwar aus Como kommen aber sächsisch reden. Die drei wissen noch, wie es war, als die ersten Lifte hier aufgemacht haben. Das war vor 40 Jahren. Seither sind sie jedes Jahr hier, oft wochenlang. Trotz seiner 76 Jahre hält es Hans nicht lange in der Hütte. Er hat sich den Saison-Skipass gekauft und den müsse er doch abfahren, sagt er, setzt sich die Mütze auf und ist auf und davon. „Meine Skier kennen den Einkehrschwung“, hat er uns vorher noch zugerufen. Der ist ganz wichtig in diesem Skigebiet mit den vielen Hütten, in denen man gemütlich sitzen und regelrecht schlemmen kann. Nicht überall so preiswert wie in der Schupf, wo man für ein Trumm Strudel gerade mal 2,70 Euro und für ein Glas Prosecco schlappe zwei Euro zahlt. 
Alexander kennt das ganze Skigebiet, weiß, wo der Schnee morgens am besten ist und wo auch am Nachmittag noch viel Platz auf der Piste ist. Der 45-jährige Skilehrer kommt aus Kaltern und hat dort auch im Sommer mit Eis zu tun. Dann kreiert er Schokoladeneis mit Pepperoncini oder die „heiße Liebe“, Vanilleeis mit Himbeersorbet. Um die 50 Eissorten verkauft er in der Eisdiele am Kalterer Marktplatz, die seine Eltern aufgebaut haben. Exotische sind darunter wie Papaya- oder Passionsfrucht-Eis aber auch traditionelle wie Panna Cotta. Damit alles auch immer schön frisch ist, müsse man einen kühlen Kopf bewahren, sagt der Vater von zwei Kindern. Den bewahrt der Alexander auch beim Skifahren. Sogar der dickste Nebel lässt ihn kalt. Den Weg ins Tal findet er immer. 
In Kanada war er mal beim Skifahren. „Doll“ war das, sagt er. Aber sein Ski-Revier tauschen, nein, das kann er sich nicht vorstellen. So ein Südtiroler lässt sich nicht so leicht verpflanzen. Das weiß auch Herbert Pichler, früher Lehrer in Deutschnofen, und inzwischen als Kulturwanderführer viel gefragt. Wer mit dem knorrigen Pensionisten unterwegs ist, muss sich warm anziehen. Denn so eine Kulturwanderung im Winter kann eine kalte Angelegenheit sein. So viel gibt es zu sehen: die umstehenden Berge vom Rosengarten bis hin zu König Ortler, die gotische Dorfkirche, den alten Ortskern mit dem Schloss und vor allem das Kirchlein Sankt Helena mit den fabelhaften Fresken aus dem Jahr 1410. Eiskalt ist es in der Kapelle, aber beim Anblick dieses in die Kirchenwände gemalten Bilderbuches wird uns warm ums Herz. So schön sind die Gesichter, so naiv die Bilder und so spannend die Geschichten, die Herbert Pichler dazu weiß: Dass bei der Restaurierung vor 20 Jahren die Eva den (später aufgemalten) Bikini wieder verloren hat. Dass auf dem Fresko über die Flucht nach Ägypten Bergleute in der damaligen Tracht zu sehen sind. Dass dieser wunderschöne Bilderreigen in der Pestzeit mit Kalk übermalt wurde und deshalb so gut erhalten ist. 
Im Kreuzhof gegenüber können sich die Kulturwanderer dann aufwärmen und stärken. Für vier Euro gibt’s eine deftige Knödelsuppe, acht Euro kostet die Flasche Hauswein. Die Kommentare der Altbäuerin gibt’s gratis dazu. Über das Anspruchsdenken der heutigen Jugend erregt sich die 80-Jährige, die als Kind schon harte Arbeit gekannt hat. „Früher waren andere Zeiten“, sagt sie ein bisschen wehmütig, während die Schwiegertochter nachsichtig lächelt und noch ein Glas wärmenden Punsch aufgießt. 
Am Abend leuchtet der Rosengarten grade so, als hätte der legendäre Zwergenkönig die rote Lampe angezündet. Die Sage um Laurin, seinen Rosengarten und seine unglückliche Liebe zur schönen Simhild kennt hier (fast) jeder. Wer Nachholbedarf hat, kann sich im Skigebiet Carezza auf die Spuren des Zwergenkönigs begeben. Pappkameraden weisen den Weg, angefangen bei Dietrich von Bern, dem Bruder Simhilds, über die tapferen Recken bis hin zu Laurin und Simhild oben auf dem Berg. Wer alle Stationen abfahren will, darf sich nicht scheuen, über künstliche Buckel zu springen und durch die Bäume zu kurven. Schließlich mussten die Helden Dietrichs auch einige Mühen aufwenden, um Laurin zu bezwingen und die entführte Simhild zu befreien. Der Zwergenkönig aber verfluchte seinen Rosengarten, heißt es im Märchen: Weder bei Tag noch bei Nacht sollten die Menschen seine Schönheit sehen können. Nur die Dämmerung hatte er vergessen. Und deshalb erglühen die weißen Felsnadeln bis heute im Abendrot.
Märchenhaft schön ist die Gegend unter dem Rosengarten. Das Skigebiet in Laurins Reich, Mitte des 20. Jahrhunderts eine der ersten Skianlagen in ganz Südtirol, hat trotzdem lange Winterschlaf gehalten. Wieder in Schwung gebracht hat es Georg Eisath, Mitbegründer der Techno Alpin AG, einem führenden Hersteller von Beschneiungsanlagen. Schneekanonen wurden installiert, moderne Lifte ersetzten die veralteten Anlagen, neue Pisten entstanden. Mit 40 Pistenkilometern aller Schwierigkeitsgrade und 16 Aufstiegsanlagen kann Carezza nicht nur mit dem benachbarten Obereggen mithalten, das Skigebiet positioniert sich zeitgeistig auch als „Alpines Klimaskigebiet“. Der Macher Eisath hat alles ausrechnen lassen für das Pilotprojekt, an dem auch das schweizerische Arosa beteiligt ist: Was sich bei der Beschneiung optimieren lässt und bei der Pistenpräparierung und wie man den Skifahrern die Energie-Effizienz vor Augen führen kann. Und er denkt schon weiter – an eine Anbindung von Carezza an die Einkaufsstadt Moena und an eine Direktverbindung mit einer Kabinenumlaufbahn nach Welschnofen. Damit ließe sich die alternative Mobilität verbessern, wirbt Georg Eisath. Mitstreiter und Geldgeber lockt er mit dem Versprechen einer jährlichen Wertschöpfungssteigerung von 18 Millionen Euro. Die Weichen sind schon gestellt, die Umweltgutachten eingeholt. Mit dem Bau könnte schon in diesem Jahr begonnen werden. Dann wird’s wieder rundgehen im Reich des Zwergenkönigs. 

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