Er ist 64 und kein bisschen weise. Oder abgeklärt wie andere in seinem Alter. Andreas Altmann, der abgebrochene Jura- und Psychologiestudent, der Absolvent des Salzburger Mozarteums und Schauspieler, hat in seinem Leben schon viel ausprobiert. Er war Spüler, Privatchauffeur, Anlageberater, Straßenbauarbeiter, Buchclubvertreter
Nachtportier, Dressman, Postsortierer, Parkwächter, Fabrikarbeiter – und ist schließlich Autor geworden. Bei alldem hat er sich eine fast kindliche Neugier bewahrt – und eine Sturm-und-Drang-Mentalität, die sich auch in wütenden Attacken gegen „die Dummheit dieser Welt“ äußert. Der Mann, der mit dem Buch „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend“ schonungslos mit seinem Elternhaus in Altötting, „dieser Oase bigotter Inzucht“ abgerechnet hat, schaltet
nie auf Schongang, nimmt weder auf sich noch auf andere Rücksicht, wenn es die Story denn erfordert. Dafür hat der Kisch-Preisträger, viel Kritik eingesteckt und ebenso viel Lob (und weitere Preise) eingeheimst. „Ein gehorsames Leben kam nicht in Frage“, schreibt er einmal. Auch das prägt seine Reisereportagen, die immer rebellisch sind, nie angepasst und gerade deshalb so lesenswert.
Es war ein langer Weg vom Prügelknaben des Altöttinger Rosenkranzkönigs zum ausgezeichneten Wut-Autor im Wohnsitz in Paris. Und trotz all der Erfolge auch als Bestseller-Autor fühlt sich Altmann immer mal wieder als „arme Sau, der das Herz zerspringt“. Vor allem im Kino, wenn eine Geschichte von einem Vater und
seinem Sohn erzählt wird. So verheerend kann Erziehung sein. Altmann wurde „im Minenfeld“ seines Elternhauses zu einem Menschen, der nach Leben fiebert, der nie genug kriegen kann. Der Mann will immer alles, den Ringkampf und den Tanz, das Insichversenken und die ewige Neugier. Er krallt sich ins Leben, lässt nichts aus, nicht die Wut und schon gar nicht die Leidenschaft. Und das Reisen ist für diesen oft verstörend aufrichtigen Autor kein All-Inclusive-Urlaub mit Netz und doppeltem Boden, sondern ein schwankendes Vehikel zur Intensivierung des Daseins. Dabei lässt er den Leser ganz nah an sich heran, an seinen inneren Schweinehund, sein Scheitern, seinen Übermut und seine grenzenlose Lebensgier.
Nun also war dieser Berserker der Reiseliteratur in Palästina, dem „verdammten Land“ und in seiner Zerrissenheit wie zugeschnitten auf Altmann, den ewig Suchenden. Auch dieses Reisebuch ist ganz Altmann, unverstellt, ehrlich, ganz nah dran und mittendrin. Und sprachmächtig, das auch.
Im Gespräch mit Lilo Solcher erzählt der Autor von seiner Reise in ein Land der Widersprüche:
Warum von allen Ländern dieser Welt ausgerechnet Palästina, Herr Altmann? Was außer Zerrissenheit haben Sie denn erwartet?
AA: Warum? Nun, ich bin Reporter, ich will wissen, wie es in der Welt zugeht. Und sehr viel aufregendere Weltgegenden haben wir nicht. Zudem war ich fasziniert von der Hartnäckigkeit der Palästinenser. Weil sie von ihrer Sehnsucht nach Freiheit nicht loslassen wollen. Ich wollte sehen, wie sie das machen. Und die Israelis dabei beobachten, wie sie den Palästinensern die Freiheit zu stehlen versuchen.
Sie füllen 300 Seiten mir Ihren Erlebnissen und Begegnungen. Wie lange waren Sie denn im Land unterwegs?
AA: Über zwei Monate, wobei zu bedenken ist, dass es sich um ein Gebiet handelt, das in etwa einem Zwölftel (!) von Bayern entspricht, sprich winzig. Aber auch das soll den Menschen dort nicht gehören.
Das Buch trägt zwar den Untertitel „Reise durch Palästina“, ist aber kein Reisebuch. Wen wollen Sie damit erreichen?
AA: Jede intelligente Frau, jeden intelligenten Mann, alle, die sich einen Rest Mitgefühl bewahrt haben, einen Rest Bewunderung für jene, die so vieles riskieren, um selbstbestimmt über ihr Leben zu entscheiden.
Sie schreiben „Gibt es einen Harmloseren als einen Schreiber, ganz nah der Welt, ganz still so mittendrin?“ Aber: Dass „Schreiber“ nicht ganz so harmlos gesehen werden, erfahren wir derzeit immer wieder, wenn Reporter Opfer ihres Berufs werden. Haben Sie sich denn vor Ort immer sicher gefühlt?
AA: Hoffentlich nicht. Um Nähe herzustellen, muss ich nah ran. Dabei wird es bisweilen etwas eng, etwas ungemütlich, etwas brenzlig. Gut so. Ich hatte schon immer ein Faible für den „thrill“, die schöne Aufregung.
Sie haben versucht, sowohl Juden als auch Arabern vorurteilsfrei zu begegnen. Das ist schon schwer genug mit der Bürde, die wir Deutsche tragen. Sie verbietet uns ja geradezu, das Land zu kritisieren, in dem Überlebende des Holocaust Zuflucht gefunden haben. Sie scheren sich nicht um solche Bedenken, sprechen gar von Apartheid und von den Palästinensern als von einem Volk, das um sein Überleben kämpft. Woher nehmen Sie die Freiheit für solche Urteile?
AA: Nein, ums Überleben müssen die Palästinenser nicht kämpfen, der israelische Staat will sie nicht ausrotten. Der Vergleich mit dem Holocaust wäre entsetzlich dumm. Nein, die Palästinenser sollen weg, sollen vertrieben werden. Nun, zu Ihrer Frage: Ich bin ja ein „Nachgeborener“, ich war beim Schlachten jüdischer Menschen nicht dabei. Ich fühle mich nicht schuldig, aber ich weiß, dass ich als Deutscher (und als Schreiber) meinen Teil – und wäre er noch so gering – dazu beitragen sollte, um jeden, auch mich, jeden Tag daran zu erinnern, dass wir Über- und Untermenschen auf Erden nicht haben. Immer „nur“ Menschen. Ach ja, woher die Freiheit? Ganz einfach: indem ich mich ausliefere, indem ich hinschaue, hinhöre, immer mein Herz und mein Hirn dabei habe.
Ja, Sie sind unparteiisch. Das stimmt. Man findet in Ihrem Buch liebenswerte und mutige Israelis ebenso wie tapfere und sympathische Palästinenser. Und natürlich auch das Gegenteil. Trotzdem bekommt man das Gefühl, dass Sie vor allem die Palästinenser als Opfer sehen. „Hier retuschieren sie täglich ein Volk weg“, schreiben Sie über die Wetterkarte von Groß-Israel. Ist denn Israel wirklich der Goliath und Palästina der kleine David?
AA: Das sind ja die ultimativen Fragen zur Menschheit. Nun denn, „Opfer“ gefällt mir nicht, denn die Palästinenser leisten Widerstand. Um nicht Opfer zu sein. Ja, die Situation ist hochkompliziert und irgendwo unheimlich einfach: Hier stiehlt ein Staat kraft einer bestausgebildeten Armee einem Volk sein Land. Auf militärischem Gebiet haben die Palästinenser keine Chance. Rechnet man alle Konflikte zwischen den beiden Feinden zusammen, so kommen auf einen toten Israeli dreißig tote Palästinenser.
„Hier geht der Irrsinn auf Erden um“ urteilen Sie einmal, nachdem Sie eine schwerbewachte Bushaltestelle beobachtet haben, eine jüdische, an der nur Busse für Siedler halten. Und dann schreiben Sie beim Anblick eines Zoos in Palästina von Ironie: „In einer eingemauerten Stadt, die sich in einem eingemauerten Land befindet, schauen die Eingemauerten auf Tiere, die in einem nach allen vier Seiten vergitterten Käfig sitzen.“ Platos Höhlengleichnis ad absurdum. Ein absurdes Dasein. Und doch scheinen Sie sich anzufreunden mit diesem Land, mit den Eingemauerten. Was fasziniert Sie an Palästina?
AA: Die Bereitschaft der Einwohner, sich nicht preiszugeben. Und die schönen Frauengesichter. Und die Farbe des Himmels, wenn der Tag aufhört. Und die Landschaften, an denen die Götter wohl immer noch schmieden. Und die geradezu unheimliche Gastfreundschaft der Palästinenser. Und diese tapferen Israelis, die sich von keiner Propagandamaschinerie, auch nicht von der ihrer eigenen Regierung, manipulieren lassen: Und hartnäckig und klug den Palästinensern zur Seite stehen.
Bei Ihrer Rückkehr hatten Sie sicher jede Menge Notizen im Gepäck für dieses Buch. Was haben Sie denn außerdem noch mitgebracht?
AA: Das verheerend schöne Gefühl, wieder auf innigste Weise am Leben gewesen zu sein.
Irgendwie scheinen Sie am Puls der Zeit zu sein, wenn ich an Filme wie „Bethlehem“ oder „Hannas Reise“ denke. Liegt die Region zurzeit „in der Luft“? Nehmen Sie ein verstärktes Interesse wahr – auch außerhalb der Medien?
AA: Ja, gewiss. Der Wind hat sich gedreht, vor dreißig Jahren wäre mein Text nicht gedruckt worden. Das so oft bewundernswerte Israel hat politisch schwerwiegende Fehler begangen. Und die Weltöffentlichkeit hat sie wahrgenommen. Am Existenzrecht Israels wird in keiner Zeile meines Buchs gerüttelt. So wenig wie am Recht der Palästinenser auf ihren eigenen Staat.
Inzwischen haben Sie Abstand gewonnen von Ihren Eindrücken. Hat sich in Ihrer Einschätzung etwas geändert? Und: Würden Sie denn wieder nach Palästina reisen – auch wenn es kein Buchprojekt gibt?
AA: Nein, habe ich nicht. Kein Abstand. Und geändert? Dass ich nicht lache: Vor ein paar Wochen war Ministerpräsident Netanyahu wieder so frei, den Bau von 1400 „jüdischen“ Wohnungen zu bewilligen. Auf palästinensischem Boden. Klar, gerechtfertigt wird dieser Landraub natürlich immer (auch) mit dem Hinweis auf die göttliche Offenbarung: dass der Herrgott persönlich dem jüdischen Volk ganz Palästina geschenkt hat. Der Gotteswahn – auch auf christlicher, auch auf muslimischer Seite – ist einer der Gründe, warum es im „heiligen Land“ so unfassbar unheilig zugeht. Ob ich wieder dorthin reisen würde? Ich weiß es nicht, im Augenblick drängen andere Süchte. Aber ich lasse den Landstrich nicht aus den Augen. Wie jeder einigermaßen vernunftbegabte Zeitgenosse will ich, dass der Frieden dort ausbricht und die beiden Völker versöhnt nebeneinander existieren. Mit Respekt für den anderen und mit einem Flair von Großzügigkeit und Souveränität.