Der Wind raschelt im trockenen Gras, durch die leeren Fensterhöhlen blinzelt eine blasse Sonne, Vögel zwitschern, von fern hören wir die Stimmen eines streitenden Paares. Die beiden inszenieren eine Themenwanderung. Wir sind auf Spinalonga, dem Eiland, das durch den Roman von Victoria Hislop „Die Insel der Vergessenen“ weltbekannt wurde.
Schaut man nicht genau hin, könnte man meinen, hier stehe eines dieser neuen Hotels, die aus vielen kleinen Häusern bestehen, die sich in die Landschaft ducken. Aber diese Insel ist kein Zuhause auf Zeit für den modernen Touristen. Spinalonga ist ein Freiluftmuseum, eines der besonderen Art. Erinnert die Insel doch an eine Zeit, die Griechenland und mit ihm ganz Europa am liebsten vergessen würde. Zwischen 1913 und 1957 waren hier über 1000 Leprakranke interniert.
Aussätzige seit biblischen Zeiten
Elena, die schöne blonde Reiseführerin, erzählt auch aus der wechselvollen Geschichte Spinalongas, bevor die Leprakranken kamen, von den Venezianern, die hier eine Festung errichteten, und von den Osmanen, die sich auf Spinalonga niederließen und die Insel fluchtartig verließen, als die ersten Leprakranken kamen. Sie waren Ausgestoßene.
Man wollte die Kranken nicht sehen, ihr Elend nicht teilen. Schon zu biblischen Zeiten galten sie als Aussätzige, hausten unter unmenschlichen Bedingungen in Höhlen oder verfallenden Häusern und mussten Glocken tragen, um Gesunden ihren Anblick zu ersparen. Zu abschreckend waren die Folgen der Krankheit: oft faulten den Leprösen Extremitäten ab, auf der Haut bildeten sich verunstaltende Knoten, Infektionen der Augen führten zur Erblindung.
Babys landeten im Waisenhaus
In der Leprakolonie waren die Geächteten unter sich. Die Isolierung auf der Insel sollte aber auch verhindern, dass sich die Krankheit weiter ausbreitete. Das Exil galt bis zum Tod. Und doch wurde auf der Insel gelebt – und geliebt, erzählt Elena. Auch wenn die Frauen wussten, dass sie ihre Babys nicht behalten, ja nicht einmal umarmen durften. Die – gesunden – Babys wurden gleich nach der Geburt in ein Waisenhaus in Athen gebracht. Nur zwei kranke Babys wurden in all den Jahren auf der Insel registriert. Sie wuchsen unter den Kranken auf. Es muss herzzerreißende Szenen gegeben haben, wenn verzweifelte Mütter versuchten, durch die Flucht von der Insel zu ihren Kindern zu gelangen. Auch Männer stürzten sich ins Meer, um ans nahe Ufer zu schwimmen. Die meisten wurden aufgegriffen und auf die Insel zurückgebracht.
Wer Angehörige dort besuchen wollte, musste vor der Rückkehr in seine Welt eine komplette Desinfektion über sich ergehen lassen. Elena zeigt uns den Raum, in dem diese Säure-Desinfektionen stattfanden. Gleich nebenan ist ein altes Tor zu sehen, durch das man hinübersehen kann ans Land. Dahin, wo die Kranken nicht willkommen waren.
Der Retter der Leprakranken
Die Lebensbedingungen der Internierten, die finanziell vom Staat unterstützt wurden, waren anfangs erbärmlich, weiß unser Guide. Sie hausten in heruntergekommenen Häusern, es gab keine ärztliche Versorgung für die Lepra. Der Arzt kam nur übers Meer, wenn die Inselbewohner über andere Krankheiten klagten.
Erst die Ankunft von Epameinondas Remoundakis, der selbst von der Lepra befallen war, machte das Leben auf der Insel leichter. 1939 wurde ein Krankenhaus gebaut, und Spinalonga bekam elektrisches Licht – früher als so manches abgelegene kretische Dorf, so Elena. Remoundakis gründete die Bruderschaft der Kranken von Spinalonga, die bei der griechischen Regierung für die Rechte der Exilierten kämpfte – und für einen besseren Zusammenhalt auf der Insel. Den gab es vorher kaum, auf Spinalonga kümmerten sich die Menschen vor allem um sich selbst, um ihr eigenes Überleben. Man betäubte sich mit Raki und vergaß sein Elend beim Spielen.
Spiegel waren auf der Insel verpönt
Remoundakis sorgte für neue Unterhaltung. Es gab Musik und Theater, ja sogar eine kleine Schule. Was es nicht mehr gab, waren Spiegel. Denn kaum einer der Kranken wollte die Verwüstungen der Krankheit an sich sehen. Es genügte schon, die anderen Kranken sehen zu müssen. Schließlich lebte man auf engstem Raum zusammen. Und dann, 1938, erhielten die Inselbewohner die Genehmigung, einen Teil der venezianischen Festung zu sprengen, um auch die andere Seite der Insel auf einem leicht begehbaren Weg erreichen zu können. Es wurde ein Weg aus der Enge.
Schon 1873 hatte der norwegische Arzt Gerhard Henrik Armauer Hansen den Erreger der Lepra identifiziert – auf Spinalonga erinnert eine Büste an den Forscher – in den 1940er Jahren gab es einen ersten Durchbruch in der Lepra-Therapie. Aber das änderte nichts am Leben auf der Insel. Die Händler der umliegenden Orte profitierten von den Kranken, denen sie für teures Geld die notwendigen Waren brachten. Und der griechische Staat zeigte sich immun gegen die Fortschritte in der Lepra-Therapie.
Ein Roman entriss die Insel dem Vergessen
Erst nachdem ein Experte die Verhältnisse auf Spinalonga gegeißelt und publik gemacht hatte, schloss Griechenland die ungeliebte Lepra-Kolonie. Am liebsten hätte man sie ganz aus der Erinnerung getilgt. Aber Hislops Roman holte Spinalonga aus der staatlich verordneten Vergessenheit. Schon bald kamen die Touristen in Scharen. Ein paar Häuser wurden für die Besucher herausgeputzt – mit Türen in gelb, rot, blau und grün. Dahinter verbirgt sich ein kleines Museum zur Geschichte der Insel. Wo die Fähre anlandet, steht ein Kiosk, an dem man nicht nur Tickets kaufen kann, sondern auch Getränke und Snacks. Und manchmal kommen Schauspieler, um Besucher mit einer Themenführung zurückzuversetzen in die Vergangenheit, als Spinalonga die Insel der Aussätzigen war.
Es ist still auf dem kleinen Friedhof schräg gegenüber der Kapelle, in der orthodoxe und katholische Christen beteten. Nur ein einziger Grabstein ist zu sehen. Die Leprakranken wurden in einem Massengrab bestattet.
Der Blick schweift über die Bucht von Mirabello, in der das Meer das Himmelsblau spiegelt. Blau sind auch die Kugeln des Zierlauchs, der hier üppig blüht. Wir steigen ein Stück weit hoch zur Zitadelle, über Stufen, dann über Geröll. Die Luft ist erfüllt von Blütenduft. Heute wirkt Spinalonga wie ein Paradies. Für die Leprakranken muss die Insel zeitweise die Hölle gewesen sein.
Info: Von Plaka aus erreicht man Spinalonga in kurzer Zeit mit der Fähre, Preis ca acht Euro. Der Eintritt auf die Insel kostet acht, ermäßigt vier Euro. Viele Hotels bieten Tagespakete für die Insel an, mit Busanreise, Fähre, Essen und Besichtigung.
Der Roman „Die Insel der Vergessenen“ von Victoria Hislop ist im Diana Verlag als Taschenbuch erschienen, aber leider fast vergriffen. Auf der website
www.cretabeaches.com kann man die Geschichte der Insel nachlesen.