Es musste wohl so sein, dass ihr erster Kriminalfall in Cannes mit den Filmfestspielen zu tun hat. Christine Cazon, 1962 in Deutschland geboren, Wahlfranzösin und mit Monsieur Cazon verheiratet, lässt sich am liebsten davon inspirieren „was passiert“. Und in Cannes passiert nun mal bei den Filmfestspielen das meiste – auch wenn im Mai bei den nächsten Festspielen hoffentlich kein Filmemacher erschossen wird.
Ein ermordeter Umweltschützer
Für Cazons Kommissar Léon Duval jedenfalls wird sein erstes Jahr in der Festspielstadt zu einer Nagelprobe. Der gerade aus Paris nach Cannes gekommene „Flic“ muss Spürsinn beweisen in einem Fall, der die Öffentlichkeit aufwühlt. Hat sich das Opfer doch einen Namen als Umweltschützer gemacht und war gleich mit einer ganzen Gruppe Indigener aus dem Regenwald ins Luxushotel Majestic angereist. „Das Hotel war kürzlich von Grund auf renoviert worden und strahlte von außen in makellosem Weiß,“ heißt es im Krimi „Mörderische Cote d‘Azur“ – und genauso ist es auch an diesem Tag, an dem Christine Cazon ein paar Journalistinnen „ihr Cannes“ zeigt.
Der Glamour von Cannes
Doch lange halten wir uns nicht auf an der Croisette, da wo der Glamour von Cannes zu Hause ist. Vor dem Festivalpalais haben Stars der Filmwelt ihre Handabdrücke und Unterschriften hinterlassen, ihre Silhouetten säumen die Strandpromenade. Derzeit allerdings wird hier viel gebuddelt. Der Strand soll wieder breiter werden, die Croisette noch schöner. Und spätestens im Mai soll alles fertig sein. Touristen fotografieren sich gegenseitig auf dem roten Teppich auf der Treppe des Palais des Festivals, ein junger Mann stellt mitten im Sand Liegen auf, ein älteres Paar flaniert entlang der Luxusboutiquen von Gucci, Dior & Co und späht in die Schaufenster mit den teuren Designerstücken.
Socca auf dem Marché Forville
Christine Cazon hat dafür kaum einen Blick übrig. „Mein Kommissar und ich, wir haben so ein Faible für das Cannes der kleinen Leute“, sagt die blonde Autorin und biegt ab in Richtung Marché Forville, dem Markt, auf dem so manche ihrer Protagonisten einkaufen. Frisches Gemüse türmt sich zu Bergen, Früchte leuchten verlockend in allen Farben, es gibt Stände mit Fleisch und Pasteten, solche mit Käse und Oliven. Man kann eine Socca, den berühmten Kichererbsen-Fladen frisch aus dem Ofen essen, frittierte Zucchini-Blüten, eine Paella. Ganz hinten ist der Fischmarkt, hier haben die Fischer ihren Fang des Tages ausgebreitet. Christine spricht einen kräftigen Mann mit freundlichem Gesicht an. Sie hat sich hier Informationen über die Sorgen und Nöte der Fischer geholt, die sie in ihrem letzten Krimi „Das tiefe blaue Meer der Cote d‘Azur“ verarbeitet hat.
Die Themen sind nah dran an der Realität
All ihre Themen sind nah dran an Cannes: Die Fischer, die sich mit ihren Booten kaum gegen die protzigen Yachten der Milliardäre behaupten können, die Cannes und das Meer davor wie ihr Privateigentum behandeln. Die Migranten aus Schwarzafrika, die als fliegende Händler am Strand nicht gern gesehen sind. Die Drogenschmuggler, die Diskussion um den Wolf im Hinterland…
Im sechsten Krimi spielt auch die Altstadt Suquet Kulisse eine wichtige Rolle. Steile Treppen führen nach oben. In der schmalen Rue Hibert reihen sich heruntergekommene Werkstätten aneinander, man findet einen Boxclub und die alten öffentlichen Bäder, die zwar inzwischen geschlossen sind, wobei aber ein Zettel auf der Tür auf eine neue Adresse verweist.
Im Hinterhof von Cannes
Hier ist nichts aufgehübscht, so manches wirkt wie der Hinterhof des glamourösen Cannes, ein bisschen schäbig mit abblätterndem Putz und verstaubten Fenstern. Im einstigen Leichenhaus der städtischen Krankenhauses Saint-Dizier haben heute Künstler ihre Ateliers. Doch Christine hat ein anderes Ziel: Zwei schmale Häuser in einem Gässchen mit zarter Wandmalerei und üppigem Blumenschmuck. Hier, erzählt die Autorin, hat sie eine alte Frau beobachten lassen, wer in der Nachbarwohnung aus und ein ging. In Wirklichkeit sind viele der Häuser nicht mehr bewohnt, sie werden über AirBnB vermietet.
Man könne Christine Cazons Buch besser als Touristenführer denn als Krimi lesen, mäkelte ein Kritiker nach dem ersten Kommissar-Duval-Fall. Tatsächlich kann man mit den Krimis ganz neue Seiten der Festspielstadt entdecken. Und das ist auch gut so, meint nicht nur die Autorin. „Ich will Cannes erzählen,“ sagt sie. Und: „Ich schreibe für ein ausländisches, das deutsche, Publikum. Die Franzosen warten sicher nicht darauf, dass ihnen eine Deutsche die Cote d‘Azur erklärt.“
Selbst erlebtes fließt in die Krimis ein
Vieles von dem, was ihrem Kommissar in seinem neuen Umfeld begegnet, hat sie selbst erlebt, als sie vor Jahren aus dem dörflichen Hinterland nach Cannes kam. „Cannes hat mich sehr eingeschüchtert,“ erinnert sie sich, „ich fühlte mich plump und ausgeschlossen.“ Wurde sie, die Deutsche, in den Bergen „mit offenen Armen empfangen“, blieben ihr in Cannes die Türen lange verschlossen. „Das war ein Schock.“ Überwinden konnte sie die Entfremdung erst, als der Verlag, in dem sie lange Jahre gearbeitet hatte, bei ihr anfragte, ob sie nicht mal einen Cannes-Krimi schreiben könnte. „Das war der Moment, in dem ich angefangen habe, mich für Cannes zu interessieren,“ berichtet Christine.
Seither hat sie viele französische Krimiserien angeschaut, hat in der Zeitung Nice Matin die Kriminalfälle studiert und Notizen gesammelt. Motto: „Das kann man alles mal brauchen.“ Drei Ordner hat sie inzwischen angelegt – Cannes Polizei, Cannes Geschichte, Cannes Kriminalität. Und die Themen gehen ihr wohl so schnell nicht aus, in ihrem fünften Krimi „Wölfe an der Cote d‘Azur“ nimmt sie die Leser mit ins bergige Hinterland, dahin, wo sie selbst ein paar Jahre gelebt hat, um nach einem Burnout zur Ruhe zu kommen.
Vom Strand zu den Inseln
Und im dritten Krimi „Stürmische Cote d‘Azur“ geht es auf die kleine Insel St. Marguerite, die wir vom Garten des Musée de la Castre aus sehen. Wir klettern die gut 190 Stufen zum Turm hoch und schauen von oben auf die Dächer von Cannes, hinüber zu den neuen schicken Häusern von La Californie und auf der anderen Seite zum Esterel Gebirge. Im vom Sonnenlicht gesprenkelten Meer liegen die beiden Îles des Lerins.
Bevor wir am Nachmittag die Fähre auf die größere der beiden, Sainte Marguerite, nehmen, lockt die Strandbar Riviera Beach. Wir sitzen in der Frühlingssonne, genießen frischen Fisch, diskutieren über den Kommissar und Cannes und können uns gut vorstellen, wie ausgelassen die junge Nicki, eine der Hauptpersonen im sechsten Krimi, hier durch den weichen Sand tanzt.
Auf der Fähre zur Insel sind wir nicht die einzigen. Ganze Familien zieht es an diesem sonnigen Tag hinaus aufs Meer. Welch ein Glück, dass wir nicht ein Wetter erwischt haben wie Kommissar Duval, der auf den sturmgepeitschten Wogen nur mühsam gegen seine Seekrankheit ankämpften konnte. „Ich weiß genau, wie das ist,“ sagt Christine, „ich bin extra bei schlechtem Wetter auf die Insel gefahren.“ Authentizität ist ihr wichtig, sie fühlt sich auch als Chronistin und bedauert, dass manches, was sie in ihren Krimis beschreibt, schon nicht mehr existiert. Auch auf der Insel wurde das baufällige Hotel, von dem im dritten Krimi die Rede ist, inzwischen abgerissen. „Alles verschwindet,“ klagt Christine beim Anblick der leeren Fläche am Strand.
Wer war der Mann mit der Maske?
Wir folgen ihr ins malerische Fort Royal, das lange als Staatsgefängnis diente und als solches von 1687 bis 1698 den mysteriösen Mann mit der eisernen Maske beherbergte – in einem großen Raum mit Kamin und vergittertem Fenster. Bis heute ist seine Identität ein Rätsel. Dass er Zwillingsbruder des Sonnenkönigs war, munkelt man, ein Spion womöglich oder ein unehelicher Sohn… Er war nicht der einzige Gefangene im Festungsknast. Politisch Andersdenkende waren hier inhaftiert, Hugenotten, Geistliche und Angehörige des algerischen Emirs Abd-el-Kader, die auf dem fast vergessenen muslimischen Friedhof der Insel beerdigt wurden. Das Musée de la Mer in der Festung erinnert an ihr Schicksal. Zu sehen sind hier auch Amphoren und Steingut aus der Römerzeit und Prototypen von Cannoiser Bürgern, die der Künstler Jason deCaires Taylor im Meer vor Cannes versenken will.
Verwunschene Inselwelt
Wir laufen durch grüne Tunnel, auf schattigen Wegen vorbei an Baumriesen bis zu einem verwunschenen Weiher, dem Étang de Batéguier, einem verzauberten Biotop, das Seevögel für sich reklamieren. Dieses gerade mal drei Kilometer lange und 900 Meter breite Inselchen ist eine Welt für sich. „Es war unglaublich, dass nur einen Steinwurf entfernt von Luxus und Eitelkeiten der Cote d‘Azur diese kleine, fast unberührte Insel existierte, die sich trotz des Touristenansturms bislang gegen alle modernen Errungenschaften behauptete,“ heißt es in „Stürmische Cote d‘Azur“. Für ein paar Stunden genießen wir diese Abgeschiedenheit des Inselchens, ehe wir zurückkehren in den Trubel von Cannes.
Dank Christine haben wir hinter die Kulissen der Festspielstadt geschaut, haben verborgene Schönheiten entdeckt und graue Hinterhöfe, wir haben die Berge gesehen und die Inseln, die protzige Villa des saudischen Scheichs und die baufälligen Häuschen der Fischer. Und wir wissen: Christine Cazon werden die Themen so schnell nicht ausgehen. Der siebte Krimi um Kommissar Leon Duval ist schon in Arbeit.
Zur Person
Geboren wurde die Autorin 1962 in Heidelberg als Christiane Dreher, aufgewachsen ist sie in der Nähe von Frankfurt und Darmstadt, in Mainz hat sie studiert und ihre Magisterarbeit in Buchwissenschaft geschrieben – über eine österreichische Kinderbuchautorin und Verlegerin. Später zog sie der Liebe wegen nach Göttingen, der Arbeit wegen nach München und landete als Herstellerin bei dem Verlag, bei dem sie heute als Autorin unter Vertrag steht: Kiepenheuer & Witsch (KIWI). Ein Burnout stellte ihr Leben auf den Kopf. Aus einem erträumten Jahr in Südfrankreich wurden viele Jahre, sie arbeitete auf einem Bauernhof, bewirtschaftete gemeinsam mit einem Freund eine Auberge, schrieb regelmäßig Blogbeiträge für „brigitte.de“ und machte Übersetzungen. Ihr erster Auftraggeber war Monsieur Cazon, ihr jetziger Mann. Und dann kam die Krimi-Anfrage von KIWI.
Kurz informiert
Anreisen Der Flughafen Nizza ist 30 Kilometer entfernt. Der Pendelbus nach Cannes kostet 22 Euro für die einfache Fahrt, 33 Euro für Hin und Zurück: www.cg06.fr/
Wohnen Es gibt jede Menge teurer und weniger teurer Hotels in Cannes. Zentral gelegen, einladend und nicht überteuert ist das Hotel Le Canberra in der Einkaufsmeile Rue d‘Antibes: www.hotel-cannes-canberra.com/en/
Wer‘s lieber abgeschieden mag: Auch auf der Insel Sainte Marguerite kann man übernachten, allerdings eher einfach im „Centre International de Séjour Iles de Lérins – Cannes Jeunesse“ im Fort Royal: www.cannes-jeunesse.fr
Unterwegs Auch ohne Auto ist man in Cannes mobil: Für 1,50 Euro kann man mit dem Bus (Busbahnhof Place Cornut) nicht nur die Innenstadt befahren, sondern kommt auf dem Verkehrsnetz der Lignes d‘Azur auch bis nach Palm Bus verbindet die Städte Cannes, Le Cannet, Mandelieu la Napoule, Théoule und Mougins.
Die Fähre auf die Insel Sainte Marguerite kostet 15 Euro, wer über Internet bucht, zahlt 13,50 Euro: www.trans-cote-azur.com/depart-cannes/iles-de-lerins-ste-marguerite-bateau-traverse-excursion/
Cannes Greeters Greeters sind Einheimische, die ehrenamtlich und kostenlos ihre Stadt zeigen, Lieblingslokale inbegriffen. So eine Führung verspricht eine ganz persönliche Begegnung mit der Stadt und dem Greeter. Leider sprechen die wenigsten Deutsch: www.cannesgreeters.fr
Essen & Trinken Nicht nur der Markt ist eine Einladung an die Gourmets, auch Geschäfte wie der Käseladen Ceneri
oder La Ferme Savoyarde in der Rue Meynadier lassen die Herzen von Feinschmeckern höher schlagen. Schön bodenständig essen kann man z.B. im rustikal-charmanten Relais des Semailles in der Rue St. Antoine im Suquet: www.lerelaisdessemailles.com/
Direkt am Strand liegt das Riviera Beach,
Boulevard du Midi Jean Hibert: www.rivierabeach-cannes.fr/
Informieren Palais des Festivals et des Congrès de Cannes, La Croisette CS 30051 – 06414 Cannes Cedex, Tel. 0033/492/998400 www.palaisdesfestivals.com, www.cannes-destination.com