Im Datendschungel: Tom Hillenbrands „Drohnenland“

So ganz will sich Tom Hillenbrand nicht von Europa lösen. Diesmal also Brüssel statt Luxemburg und ein leibhaftiger Kommissar statt eines Kochs mit Spürnase. Nicht zu vergessen die Zeit: „Drohnenland“ spielt in der Zukunft, in einer Zeit, da der Klimawandel schon extrem zugeschlagen hat und die totale Überwachung Alltag ist. Hillenbrand scheint ein Gespür für den Zeitgeist zu haben. In seinem kulinarischen Krimi „Letzte Ernte“ hat er den Whistleblower Edward Snowden quasi vorweggenommen. Nun also „Drohnenland“, ein Krimi, in dem viele Zukunftsängste schon Wirklichkeit geworden sind.
Am Anfang ist – wie es sich bei einem anständigen Krimi gehört – eine Leiche. Ein toter Mann ohne Gesicht irgendwo im belgischen Nirgendwo. Schnell erkennt Hauptkommissar Aart Westerhuizen die Brisanz des Falls. Bei dem Toten handelt es sich um einen italienischen Abgeordneten des Europaparlaments, das gerade dabei ist, sich über eine Abstimmung mehr Macht zu geben. Die Welt hat sich verändert, Holland ist im Dauerregen untergegangen, Amerika machtlos, Saudi-Arabien verarmt und Brasilien das reichste Land der Welt. Aber die EU gibt es noch und wie heute droht Großbritannien mit dem Austritt. Selbst Zeitungen existieren noch. Und das obwohl man alles, was man gerne wissen will, auf einer Medienfolie abrufen kann. Und der Kommissar hat nicht nur eine kluge Analystin, sondern auch einen genialen virtuellen Helfer, nach dem (blinden) Seher in der griechischen Mythologie Tereisias genannt, abgekürzt Terry.
Bei seinen Ermittlungen kann Westerhuizen auf eine Möglichkeit zurückgreifen, von der heutige Kommissare nur träumen: eine begehbare Computersimulation, die von Drohnen gespeist wird. Sie füttern diese „Spiegelung“ mit ihren Beobachtungen und Berechnungen vom Tatort und machen sie so zu einem genauen Abbild der Wirklichkeit. Doch Drohnen sind nicht nur Helfer am Tatort. Sie können auch bösartig sein, tödliche Assassinendrohnen oder winzig kleine Abhördrohnen, die aussehen wie Eintagsfliegen. „Wer achtet schon auf Drohnen, Aart?“ fragt die schöne Analystin Ava. Die schöne neue Welt scheint voll von ihnen zu sein. Aber irgendetwas, das ahnt der Kommissar, läuft falsch in dieser und in der gespiegelten Welt.
Liegt es an der „google-Brille“, specs genannt, mit der jeder seine Wirklichkeit aufnehmen und verändern kann? Westerhuizen ermittelt auch in einem Datenfriedhof, wo auf Schnipseln der alltägliche Wahnsinn konserviert ist und er nutzt den Mirrorspace, um ungesehen Spuren zu verfolgen. Noch braucht es dazu das menschliche Gehirn, schon bald aber könnte das Superhirn Terry Analysten wie Ava unnötig machen, irgendwann vielleicht auch Kommissare wie Westerhuizen. Und das ist das Bedrohliche an dieser Zukunft. Denn dann würde eine Maschine die Daten kontrollieren, die sie selbst gehortet hat. Weil man aber diesen Daten nicht trauen kann, befindet sich der Kommissar bald selbst auf der Flucht – in eine andere Welt.
Tom Hillenbrands „Drohnenland“ ist ein Science-Fiction-Krimi, der sich eng an die derzeitigen Entwicklungen anlehnt und damit suggeriert, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis seine Vorhersagen Wirklichkeit werden. Hillenbrand nutzt die literarische Form des Krimis, um zu zeigen, wozu ein allmächtiger Überwachungsstaat fähig sein und wozu die Datensammelwut führen könnte. Sein mörderisches Szenario könnte so manchen naiven Facebook- und Twitter-Zeitgenossen aus der Lethargie reißen und dazu führen, dass er seine Daten nicht mehr ganz so großzügig in die Welt posaunt.
Info: Tom Hillenbrand, Drohnenland, kiwi Taschenbuch, 432 S., 9,99 Euro

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