Bilder von in der Luft hängenden Brücken, von ausgesetzten Steigen in schwindelerregender Höhe,von himmelhohen Felsen und teuflischen Abgründen schwirren mir durch den Kopf, wenn ich an den Caminito del Rey denke. Jenen legendären Steig im andalusischen Hinterland, der vor mehr als 100 Jahren durch die Gaitanes Schlucht gebaut worden war. Ich bin entschlossen, ihn zu gehen, den Thrill zu erleben, das Kribbeln am Abgrund.
Die Gelegenheit ist günstig. Der einst „gefährlichste Weg der Welt“ wurde im Frühjahr dieses Jahres wieder eröffnet. Vorher schon durfte Antonio Banderas samt Freundin auf den Pfad – ausnahmsweise, erzählt Jürgen, der uns auf dem Weg begleiten wird. Drei Mal ist der Guide den Weg schon gegangen, sagt er – auch mit einer Gruppe Senioren. 800 Menschen würden pro Tag von den Behörden zugelassen, und bis Dezember sei der Pfad schon ausgebucht.
Jürgens Erzählungen vertreiben meine Ängste, sie dämpfen allerdings auch meine Euphorie. Wo bleibt da der Nervenkitzel, wenn Scharen von Touristen auf dem Steig unterwegs sind? Doch meine Sorgen erweisen sich schnell als unbegründet. Wir parken über dem sensationell karibikgrünen Stausee Conde del Guadalhorce, und nach einen kurzen Weg entlang der Straße zeigt der Wegweiser in einen dunklen Tunnel. Nur Jürgen hat eine kleine Taschenlampe dabei, die nur wenig erhellt. Das Licht am Ende des Tunnels lässt auf sich warten, und die gespenstische Wanderung durchs Halbdunkel ist schon ein kleines Abenteuer.
Eineinhalb Kilometer führt danach ein schöner Wanderweg bis zum Eingang des eigentlichen Caminito. Hier werden die Ausweise geprüft und die weißen (Bauarbeiter)Helme ausgehändigt. „Die brauchen wir wegen der Steinschlaggefahr,“ erklärt Jürgen und stülpt sich den Helm auf den Kopf. Wir erfahren noch, dass der ursprüngliche Caminito als Wartungsweg für den Kanal eines Wasserkraftwerks angelegt wurde, das Strom für Malaga liefern sollte. Dafür wurde eine hydraulische Talsperre errichtet, die das Gefälle des Guadalhorce zwischen dem Gebiet von Gaitaneio und der Gaitanes Schlucht nutzte. Eine der ersten Kunden waren übrigens Siemens Elektrische Betriebe, „La Alemana“ (Die Deutsche“) genannt. Der gefahrvolle Bau des schwindelerregenden Wartungswegs hat sicher einige Opfer gefordert. Dass dafür zum Tode verurteilte Häftlinge eingesetzt wurden, gehört allerdings wohl ins Reich der Legenden. Verbürgt ist: Nach der Fertigstellung 1921 kam König Alfonso XIII. zur Einweihung – daher der Name Caminito del Rey, kleiner Königsweg.
2,7 Kilometer lang ist der eigentliche Caminito, kein Klettersteig, sondern ein schwer befestigter Holzbohlenweg. Wer hier abstürzen will, muss es darauf anlegen. Und selbst dann wären Sicherheitsleute zur Stelle, die an neuralgischen Punkten Wache halten. Und doch: Beim Blick in die Tiefe stellt sich ein angenehmes Kribbeln ein. Die Schlucht ist eng. Steil ragen die schraffierten Felswände in den blauen Himmel. Hoch droben ziehen Adler ihre Bahnen. Oder sind es Geier, die da kreisen? Aus Felsritzen sprießt es grün, so grün wie der Fluss, der sich tief unter uns durch die Felsen schlängelt. Von einem Überhang rieselt ein kleiner Wasserfall, und die Gischt zaubert einen Regenbogen in die Schlucht.
Ich stehe auf einer fast durchsichtigen Plattform und schaue hinüber auf einen doppelten Camino: Unterhalb der neuen Holzgalerie sind noch Reste des alten Steigs erhalten – durchlöcherter Beton zwischen verrosteten Eisenträgern, abenteuerlich. Mich schaudert bei dem Gedanken daran, dass auf diesem schmalen Pfad über dem Abgrund einmal Menschen unterwegs waren. Unter Lebensgefahr. Noch bis in die 1970iger Jahre nutzten ihn wohl die Arbeiter, die den Kanal reinigten. Doch dann wurde ein neues Kraftwerk gebaut. Der Caminito wurde überflüssig und verfiel. Der Zement bröckelte, die Eisenschienen korrodierten, Steinschlag zerstörte ganze Passagen. Und doch wurde der Weg weiter begangen – vor allem von Kletterern, die sich über die Wegreste tasteten, über die rostigen Schienen balancierten und sich an Stahlseilen entlang der Felswände hangelten. So wie die drei jungen Männer, deren Tod im Jahr 2000 zur Schließung des mittlerweile legendären Caminito führte. „Eure Seelen schweben zwischen den Felsen und dem Himmel,“ heißt es auf der Gedenktafel, „ihr bleibt ein Mythos für uns, eine Legende“.
Zur Legende wurde auch der Caminito – bis er nach einer zweieinhalb Millionen teuren Restaurierung wieder eröffnet wurde. Sauber möbliert und weitgehend ungefährlich. Aber immer noch grandios. Zu erleben auch auf der 15 Meter langen Hängebrücke vor La Garganta, die 100 Meter über dem Abgrund schwebt. Da sind all die Bilder, die ich im Kopf hatte: die Felsen und die Abgründe, die Brücke zwischen Himmel und Bergen. Als ich auf ihr stehe und in die Tiefe blicke, spüre ich, wie die ganze Konstruktion schwankt – und ich genieße den Nervenkitzel.
Info: Der Caminito del Rey ist ein 2,7 Kilometer langer gut ausgebauter Steig, der nur in eine Richtung begehbar ist. Der Weg bis zum Eingang ist etwa eineinhalb Kilometer lang ebenso der Weg vom Ende des Steigs zur Straße. Von Hier kann man mit einem Shuttlebus zurück zum Ausgangsort fahren. Noch bis zum Ende des Jahres ist die Begehung des Steigs kostenlos. Ab März 2016 plant die andalusische Provinzregierung Eintrittsgebühren. Wichtig: Der Eintritt muss über das Reservierungsportal im voraus gebucht werden. Der Camenito kann ganzjährig begangen werden jeweils von Dienstag bis Sonntag. Geöffnet ist er vom 25. Oktober bis 27. März von 10 bis 14 Uhr und vom 1. April bis 24. Oktober von 10 bis 17 Uhr. An den Weihnachtsfeiertagen, an Silvester und Neujahr ist der Caminito geschlossen. Ausführliche Infos unter http://www.caminitodelrey.info/de/