Ein Haus in Gent

Am Bahnhof von Gent wird gebaut, trotzdem ist der Weg zur Straßenbahn nicht zu verfehlen. Aber hier deutet nichts auf das hin, was die Besucher in Gent erwartet. Wer dann ganz unbedarft am Korenmarket aussteigt, traut erst einmal seinen Augen nicht. Diese grandiosen Kirchen, diese beeindruckenden Türme, die schönen, alten Häuserfassaden mit den Treppengiebeln entlang der Leie!

Schöne Fassaden entlang der Leie.

Man könnte sich ins Mittelalter versetzt fühlen, wären da nicht die Straßenbahn und ein paar Autos. Das „Manhattan des Mittelalters“ macht seinem Namen alle Ehre. Ein Japaner gerät vor lauter Filmbegeisterung in Stolpern, und ich bin einfach hingerissen. Dabei bin ich gar nicht wegen der Stadt gekommen, sondern wegen eines Buches.

Das Haus als Bühne

Das allerdings spielt in Gent – im letzten Jahrhundert. Stefan Hertmans – schmales Gesicht, graue Locken, Künstlerhände – hat in „Der Aufgang“ die Geschichte eines Hauses geschrieben, seines ehemaligen Hauses im alten Stadtviertel Patershol. Kein stolzes Patrizierhaus, eher ein schmuckloses Arbeiterhaus mit zwei Gesichtern – vorne mit verblichen gelbem Anstrich, hinten zum winzigen Garten raus rostrot. Der Autor hat das Haus längst wieder verkauft, eine Künstlerin wohnt da, die es nicht mag, wenn man ihr und dem Haus zu nahe kommt.

Rückansicht des Roman-Hauses

Doch Hertmans hat das Haus zur Bühne seines Romans gemacht – mit Anleihen aus Dantes Göttlicher Komödie. Wie Dante und Vergil von der Hölle zum Paradies aufsteigen, steigen bei Hertmans der Notar und der Käufer aus dem nassen, dreckigen Keller in den staubigen Dachboden auf, in den sich eine zerfledderte Taube verirrt hat. Kein Teufel unten, kein Gott oben.

Ein Altar mit Geschichte

Und doch ist in Gent das Paradies zu finden, in der St. Bavo Kathedrale. Im Zentrum des fantastischem Flügelalters, den Jan van Eyck 1432 geschaffen hat, strömen Menschen in einer arkadischen Landschaft zusammen, um das mystische Lamm Gottes anzubeten. Nur wer genau hinschaut, kann erkennen, dass das Lamm vier Ohren hat – das Ergebnis einer Übermalung. Denn dieser Altar hat eine abenteuerliche Irrfahrt hinter sich, ehe er wieder an seinen Ursprungsort zurückkehren konnte. Er wurde verschleppt, verkauft und beinahe zerstört. Während des 2. Weltkriegs brachten die Nazis die Altartafeln ins österreichische Salzbergwerk Altaussee. Die von Hitler befohlene Sprengung des Bergwerks verhinderten einige mutige Männer, wie der Film „Monument men“ zeigt. So konnten die Tafeln zurückkommen nach Gent.

Van Eycks Paradies

Das Paradies und Gent

Zu bewundern ist der Altar heute in der Kapelle unter dem Nordturm der Kirche hinter Panzerglas und bei künstlichem Licht. Van Eycks Paradies wirkt nach der gründlichen Restaurierung geradezu lebensprall. Ein Brunnen sprudelt, es blüht und grünt, der heilige Geist schwebt als Taube im Sonnenball. Und im Hintergrund unverkennbar die Silhouette von Gent mit dem Belfried, dem stolzen Unesco-Weltkulturerbe aus dem 14. Jahrhundert.

Weltkulturerbe: der Belfried

Auch Patershol hat eine wechselvolle Geschichte. Das Stadtviertel im Schatten der imposanten Grafenburg entwickelte sich vom Militär- und Klostergelände über ein Wohngebiet für hohe Beamte zum vernachlässigten Arbeiterviertel.

Geschichten aus der Hölle

In der nur hin und wieder für Konzerte geöffneten Drongenhof-Kapelle hat sich viel Staub angesammelt, im düsteren Raum fällt das Licht auf eine Pferdeskulptur auf einer Art Altar – ein Schmerzensbild, geschaffen von der Genter Künstlerin Berlinde de Bruyckere. Welch ein Gegensatz zu van Eycks farbenfrohem Paradies! Eine versteckte Tür öffnet sich zu einer steilen, von Kisten verstellten Treppe. Hier, hat Stefan Hertmans herausgefunden, versteckten sich in der NS-Zeit die Widerständler vor den Nazischergen – und wurden selbst zu Mördern.

Installation in der Drongenhof Kapelle

Hertmans lässt seinen Gesprächspartner, einen langjährigen Dekan der Patersholer Gemeinde das Geschehen rekapitulieren: „Und als irgendwann vermutet wurde, dass da oben was im Busch ist, hat man zwei SS-Männer hingeschickt; das Gebäude stand schon lange leer, die Tauben haben überall hingeschissen, der Fußboden war kaputt, da fanden sie nichts. Also sind sie die Treppe bis zum Lettner hoch, und dann noch eine schmale Treppe aus Holz, sie waren so leise wie möglich, doch in dem Moment, als sie die Tür zum Dachboden eintreten wollten, wurde sie aufgerissen, die Widerständler stürzten sich auf die SS-Männer und schnitten ihnen sofort die Kehlen durch. Wohin aber jetzt mit den Halbenthaupteten? Würde man die Leichen finden, käme es zu einer Vergeltungsaktion, bei der vermutlich das ganze Patersholer Viertel zerstört und die halbe Bevölkerung erschossen würde. Was machen die Männer also? Sie werfen die Leichen in den Altarraum hinunter und stemmen ein paar alte Grabplatten auf dem Kirchenboden auf… Niemand weiß, in welches Grab sie die Männer gelegt haben, und man kann ja nicht wegen ein paar Nazis den ganzen Kirchenboden umpflügen.“

Wendung des Schicksals

Bald danach wendet sich damals das Blatt. Und die Kollaborateure werden zu Verfolgten. Als die Bomben der Alliierten fallen, flieht die Familie des Genter Nazis in den Keller des Hauses – einmal zusammen „mit einem vor Angst zitternden SS-Mann“.
Von dieser einstigen Hölle des Krieges ist draußen nichts mehr zu spüren. Patershol gilt mit seinen mäandernden Gassen und den vielen Kneipen als hip. Heute, sagt Stefan Hertmans, hätte er sich das Haus, das ihn zu seinem Roman inspiriert hat, als junger Lehrer gar nicht mehr leisten können. „Ich kaufte das Haus aus einem Impuls heraus und für einen Betrag, für den man heute nicht einmal mehr ein mittelgroßes Auto bekommt“, schreibt er im Buch.

Mit Stefan Hertmans vor dem Haus

Eintauchen in die Vergangenheit

Die Geschichte, die sich hinter den unscheinbaren Mauern verbarg, hat sich dem Autor erst nach seinem Auszug offenbart – nach und nach: „Es war, als spukten plötzlich Gespenster durch die mir so wohlbekannten Zimmer; nur zu gerne hätte ich ihnen einige Fragen gestellt, doch sie gingen ungehindert durch mich hindurch“, heißt es im Vorwort. Um Antworten auf seine Fragen zu finden, musste er Archive und Gerichtsakten durchstöbern, hat er sich mit Zeitzeugen, Familienmitgliedern und überlebenden Hausbewohnern getroffen. Aus den Erkenntnissen, die er über die Jahre gesammelt hat, hat er seinen historisierenden Roman gewoben.Dabei verzichtet er darauf, ein allwissender Erzähler zu sein. Lieber mischt er sich unter seine Charaktere – wie ein Reporter. Und wie ein Reporter berichtet er objektiv, lässt auch dem Genter Nazi, der als Kind ein Auge verlor und früh die geliebte Mutter, eine menschliche Seite.

Die flämische Wunde

Nur vordergründig handelt der Roman von einem flämischen Nazi und der Tragödie einer Ehe. Im Hintergrund geht es „um eine alte flämische Wunde“, das Gefühl, in dem „als einsprachiger romanischer Staat gegründeten Belgien“ an die Wand gedrängt zu werden. Das gäbe es noch heute, sagt der Autor, der über Hölderlins Antigone promoviert hat und ein nahezu klassisches Deutsch spricht. Zum Beispiel in der separatistischen Partei Vlaams Belang, Nachfolgeorganisation des rechtsextremen Vlaams Blok, der 2004 verboten wurde. Die Anhänger streben die Unabhängigkeit Flanderns an. „Das kann man nicht ausrotten“, meint Hertmans resigniert. Diese Zerrissenheit sei eine Art flämische Obsession. Dabei gehe es den Flamen heute doch „vorzüglich“. Und Belgien, in dem sich Flamen und Wallonen als eine – mehrsprachige – Nation verstehen, könnte ein Vorbild für ein geeintes Europa sein.

Friedensappell am Rathaus

Gent jedenfalls zeigt sich derzeit mit einer ukrainischen Flagge und der Regenbogenfahne mit dem Schriftzug Vrede solidarisch mit der von Russland bedrängten Ukraine. Mit den Toten, den Verletzten und Flüchtenden, weiß Hertmans, kämen auch in Belgien „die alten Bilder wieder zum Leben – ein Alptraum“.  Dabei denkt der Autor  auch an die Erfahrungen, die sein Großvater im Ersten Weltkrieg gesammelt hat, und die er auch literarisch verarbeitet hat.

Kurz informiert

Anreisen. Gent ist über Brüssel gut mit dem Zug zu erreichen.
Wohnen. Im Stadtzentrum gibt es reichlich Hotels. Schön gelegen in Laufnähe zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt ist das NH Gent Belfort Hotel dem Rathaus gegenüber: www.nh-hotels.de/hotel/nh-gent-belfort
Genter Altar in der St. Bavo Kathedrale Eine „Augmented Reality“-Brille ermöglicht eine Reise in die Geschichte des Altars, ehe die Besucher das Meisterwerk selbst zu Gesicht bekommen. Besucher mit City Card müssen das Ticket online reservieren. Der normale Eintrittspreis beträgt 16 Euro, mit City Card die Hälfte: https://visit.gent.be/de/staunen-erleben/genter-altar-himmlisches-kuenstlerisches-highlight
Belfried Der mächtige Turm kann bestiegen werden. Von oben bietet sich eine Rundumsicht auf Gent. Sehenswert ist auch die Tuchhalle in Brabanter Gotik. Der Eintritt kostet 10 Euro, ermäßigt acht Euro:
https://visit.gent.be/de/staunen-erleben/der-genter-belfried-ein-weltkulturerbe
Gent City Card ermöglicht einen vergünstigten Zugang zu den Sehenswürdigkeiten, die öffentlichen Verkehrsmittel sind damit kostenlos. Gratis ist auch der Eintritt zu befristeten Ausstellungen in den Museen. Für 48 Stunden kostet die City Card 38 Euro, für 72 Stunden 44 Euro:
https://visit.gent.be/de/wissenswertes/praktische-auskuenfte/citycard-gent
Tipp. Gent hat auch ein Herz für Graffiti und eine eigene Graffitigasse. Auch die lohnt einen Abstecher.
Informieren. Tourist Information Centre, Sint-Veerleplein 5, www.visitgent.be
Bücher. Stefan Hertmans. Der Aufgang, Diogenes, 472 S., 25 Euro
Stefan Hertmans. Krieg und Terpentin, Diogenes, 416 S.,  12 Euro

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