23 Millionen Räder gibt es in den Niederlanden – bei gut 17 Millionen Menschen. Radfahren ist hier Alltag und Volkssport. 32 000 Kilometer Radwege durchziehen das Land. Eine Einladung, selbst mal aufs Rad zu steigen. Und weil das Land von Wasserwegen durchzogen ist, am besten in Kombination mit einer Schiffsreise. Boat Bike bietet beides, und die Amsterdam liegt in Laufnähe zum Amsterdamer Zentralbahnhof. Hier sind wir richtig – für die nächsten acht Tage.
Und hoffentlich weit weg von Corona-Einschränkungen.
Räder auf dem Sonnendeck
Das Schiff ist nicht ausgebucht, einige haben abgesagt, nachdem das RKI die Niederlande zum Hochinzidenzgebiet erklärt hatte. Umso besser. So fällt Abstand halten nicht schwer, und unterwegs auf den Radwegen bleiben wir ohnehin unter uns. Auf dem Sonnendeck stehen die Räder bereit. Die ersten Gäste testen schon, wie sie mit dem Leihrad zurecht kommen, andere haben die eigenen Drahtesel mitgebracht. Auch E-Bikes gibt es. Wir haben uns für normale Räder entschieden. Die Niederlande sind ja flach…
Reiseleiterin Janneke, groß, blond und kräftig, ein Meisje wie aus dem Bilderbuch, warnt allerdings vor etwas anderem, dem Wind. Der wehe eigentlich immer, sagt sie, und leider meist von vorn. Schöne Aussichten. Noch weiß ich nicht, ob ich mit dem Rad überhaupt zurecht komme. Ist der Sattel nicht zu hoch? Und wie funktioniert die Gangschaltung?
Am ersten Tag entscheiden wir uns deshalb für die kurze Tour nach Utrecht. Und das ist auch gut so. Janneke hat mir zwar die Touren-App aufs Handy überspielt, aber wir sehen und hören nichts. Trotzdem, alles funktioniert besser als gedacht. Wir fahren am von Villen gesäumten Kanal entlang, vorbei an Schlössern und kleinen Holzbrücken, unter denen Hausboote und Motorjachten hindurch fahren. Alles hübsch sauber und gepflegt.
Und dann die Hortensien – blau, rosa, rot, weiß – ganze Blumenmeere. Man weiß gar nicht, wo man hinschauen soll bei all der Pracht – nach rechts zum Kanal, nach links in die Gärten. Wichtig, das lernen wir schnell, sind die Knotenpunkte (Knooppunt), an denen wir uns orientieren können. Und dann schließen wir doch noch Frieden mit unserer App, die sich inzwischen auch hören lässt, wenn auch leise.
Der Turm von Utrecht
Was wir sonst noch sehen: einen einsamen Storch auf der Wiese, einen Graureiher am Straßenrand, Kanufahrer auf dem Kanal, einen Standup-Paddler, einen Frauenachter, Angler am Ufer. Und schon sind wir in Utrecht mit seinem sehenswerten Zentrum rund um den Dom.
Der gewaltige Turm mit dem Glockenspiel ist schon wieder eingerüstet und wird es auch noch bis 2124 bleiben. Seit dem 14. Jahrhundert ist er sozusagen „work in progress“, wurde immer wieder verändert, auf- und abgebaut. Drumherum eine Kneipe an der anderen, Cafés, Restaurants – auch entlang der Gracht und auf Wasserhöhe. Masken sind keine zu sehen, und an die Abstände hält sich auch niemand. Wir landen im prächtigen Winkel van Sinkel, einem Grand-Café an der Oudegracht und genießen entspannt den Blick auf das bunte Treiben.
Als sich am Abend ein Gewitter entlädt, sind wir schon wieder sicher an Bord und lassen uns von Janneke die Pläne für den nächsten Tag erklären. Die erweisen sich schnell als Makulatur. Der Wolkenbruch in Rotterdam hält uns von einer Radtour ab. Statt dessen erkunden wir die aufregende Metropole, einen Spielplatz moderner Architektur. 200 Nationalitäten leben hier, der Bürgermeister hat marokkanische Wurzeln.
Wohnen im Kubus von Rotterdam
Wir wollen die berühmte Markthalle sehen und die Kubushäuser. Der freundliche, grauhaarige Mann an der Kasse zur Museumswohnung entpuppt sich als Eigentümer. Seit 37 Jahren wohnt Ed schon hier und fühlt sich noch immer wohl. Die originelle Einrichtung der Wohnung hat er selbst entworfen: „Ich war immer schon an Design und Architektur interessiert.“ Museumsdirektor nennt sich der 68-Jährige heute, früher war er Archivar in einer großen Firma. Schon vor Jahren hatte er sich dafür entschieden, die Wohnung fürs Publikum zu öffnen. „Ich mache die Tür auf und die ganze Welt kommt zu Besuch“, sagt er, und dass er froh ist, die Corona-Einschränkungen überstanden zu haben. Ein halbes Jahr lang war alles geschlossen. Jetzt strömen die Touristen wieder.
Die Folgen von Corona sind auch in der berühmten Markthalle zu spüren. Unter dem angeblich größten Gemälde der Welt sind viele Stände geschlossen. Frisches Gemüse oder Obst gibt’s hier zurzeit nicht, aber man kann sich durchfuttern durch die Küchen dieser Welt. Zwischen den Regengüssen bummeln wir durch die Stadt, besuchen Erasmus vor der Laurenskerk, spazieren durch die Büros der Stadtverwaltung im Jugendstil-Rathaus und über die proppenvolle Einkaufsstraße Lijubaan. Masken sieht man hier kaum, aber viele große Einkaufstüten.
Als der Großteil der offenbar wetterfesten Radler am Schiff eintrifft, schüttet es mal wieder. Wir haben diesen Tag zumindest trocken überstanden – und abends lasse ich mir von Stadtführer Jan Landmann noch ein paar Hintergründe zu Rotterdams Geschichte erklären. Dass die Stadt im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört wurde, weiß ich, aber dass die Brände hier sieben Tage gewütet haben, ist mir neu.
Die berühmteste Statue der Stadt, eine Figur mit zerrissenem Herzen von O. Zadkine, erinnert an das Trauma der Stadt an der Rotte. Doch Rotterdam hat sich neu erfunden, hat nach vorne geblickt statt zurück und sich als dynamische, junge Stadt einen Namen gemacht.
Am nächsten Morgen ballen sich schon wieder graue Wolkenberge über den Türmen von Rem Koolhaas, die zusammen mit den weißen Pfeilern der Erasmusbrücke, der Schwan genannt, den Ruf Rotterdams als Architekturstadt gefestigt haben.
Ab Mittag ist Regen angesagt. Sollen wir oder sollen wir nicht?
Die Windmühlen von Kinderdijk
Auf dem Tourenplan stehen die 19 Windmühlen von Kinderdijk, Weltkulturerbe. Also doch radeln und hoffen, dass der erwartete Platzregen erst später kommt. Wir nehmen den Wasserbus ab Rotterdam – Maskenpflicht! – und radeln durch ein Bilderbuchholland mit Windmühlen, Kühen auf den Feldern, Dörfern mit Reet gedeckten Häusern und üppigen Hortensienbüschen. Ein dickes braunes Schaf mäht uns an, Gänse überfliegen uns in Formation, in den Kanälen blühen Seerosen. Wenn nur nicht die dicken Wolken wären! Wir würden ja gerne das Museum in Kinderdijk anschauen, aber es ist noch ein weiter Weg bis zum Schiff.
So machen wir nur eine kurze Pause im schönen Restaurant de Burgemeester im kleinen Bleskengraaf. Dann zieht sich die Strecke und wir werden doch noch nass.
Was wir daraus lernen? Wir müssen uns besser ausrüsten. Die Profis auf dem Schiff haben alles dabei, Regenhosen und – Ponchos, Buffs, die sich zur Sturmhaube umfunktionieren lassen, Radhandschuhe natürlich. Das alte Ehepaar, das schon am frühen Morgen immer total motiviert ist, trägt sogar T-Shirts mit dem Aufdruck der Route. Und wir? Gerade mal Radhosen und Regenjacken! Blutige Anfänger halt.
Die Gäste an Bord
Janneke kennt ihre Pappenheimer, das Damenquartett aus Israel, die französische Familie, die zum Frühstück auch mal im Pyjama kommt, die ehrgeizigen Sportradler… Vor vier Jahren hat sie ihren Beruf als Managerin in einem großen Unternehmen an den Nagel gehängt. „Ich wollte endlich mal frei sein“, sagt sie. Mit Boat Bike Tours ist sie glücklich, vor allem, wenn sie draußen sein kann. In der weiten Landschaft geht ihr „das Herz auf“. Da stört sie auch kein Regenguss, und die meisten Gäste wohl auch nicht. Janneke erinnert sich an einen 92-Jährigen, der jede Tour mit geradelt ist – ohne E-Bike. „Aber er hatte ja auch eine junge Frau“, sagt sie und lacht: „Sie war 80.“ Im Durchschnitt sind die Gäste zwischen 50 und 80 Jahre alt, in der Hochsaison auch jünger.
In Schoonhoven mit dem gotischen Rathaus und der imposanten Kirche fallen die vielen Gold- und Silberschmiede ins Auge. Das Städtchen hat sich einen Namen als „Silberstadt“ gemacht. Ab Rikkoert führt das Geschäft schon in der vierten Generation. 58 ist der freundliche Gentleman, der den Besuchern gern seine Schätze zeigt – darunter auch eine silberne Puppenstube. Damit, sagt der gelernte Goldschmied, hätten im 17. Jahrhundert die Kinder reicher Amsterdamer Kaufmannsfamilien gespielt.
Die Zeiten sind vorbei, auch das blitzende Tafelsilber interessiert immer weniger Menschen in Europa. Doch Rikkoert hat anderswo neue Kunden gefunden. Ohne Internet, für das sein Sohn verantwortlich ist, hätte er allerdings Probleme, seine Schätze zu verkaufen.
Alles Käse beim Biobauern
Auch die Familie van Vliet, die wir am nächsten Tag besuchen, kann auf eine lange Tradition zurückblicken, wie der 32-jährige René erzählt. Ihr Geschäft ist Käse, „Kuhmilch-Käse. Die Ziegen sind nur zum Kuscheln da.“ Seit sechs Jahren arbeitet die Familie, zu der neben den Eltern auch der Bruder gehört, biologisch. „Eigentlich machen wir wieder das, was unsere Vorfahren gemacht haben“, sinniert der jugendliche Käsebauer mit dem dunkelblonden Haarschopf – naturnahe Landwirtschaft ohne Chemie.
Wir fahren weiter nach Oudewater, wo gerade ein kleiner Markt stattfindet. Auch hier viel Käse, nicht jeder biologisch. Schöne alte Häuser säumen die Gracht und in Montfort steht sogar ein Schlösschen.
Dann geht’s schnurgerade weiter Richtung Utrecht, und bei Gegenwind erweist sich der kleine Anstieg auf eine Brücke schon als ziemlich anstrengend. Ganz so locker wie gedacht ist das Radeln in den Niederlanden doch nicht. Auf den schmalen Sträßchen können schon mal Lastwagen auftauchen, denen man als Radler besser weicht. Und was macht man, wenn das Navi was anderes sagt als die Karte oder der Knotenpunkt?
Pfadfinder gefragt
Am Abend gibt’s dann noch eine Änderung. Statt wie vorgesehen in Haarlem legt das Schiff im wenig attraktiven Ijmuiden an. Damit ändert sich auch die Radroute, weil wir viel weiter oben als geplant starten. Deshalb schließen wir uns am Morgen der allzeit fröhlichen und leicht bekleideten Janneke an – wie die Gruppe aus Israel und einige Deutsche. Janneke bringt uns sicher zum nächsten Knotenpunkt. Ich bin skeptisch, ob wir bei der Rückkehr den Weg wieder finden. Als Pfadfinder waren wir noch nie besonders gut.
Doch erst einmal geht es ab in die Dünen im Nationalpark Kennemerland. Alles ist grün, Baumgiganten stehen da wie Skulpturen. Und ich weiß jetzt, dass die Niederlande keineswegs nur brettleben sind. Es ist ein ständiges Auf und Ab – und das bei heftigem Gegenwind. Wir treten kräftig in die Pedale und kommen doch nur langsam vorwärts, anders als die E-Bikes. Sie ziehen locker an uns vorbei, während ich mir noch überlege, abzusteigen und das verdammte Rad zu schieben.
Eine Brauerei in der Kirche
Trotzdem: Es gibt schöne Ausblicke in die Dünenlandschaft, und Haarlem ist eine Stadtschönheit mit langer Geschichte. Wir kehren in der Jopen Brauerei ein, die in einer aufgelassenen Kirche zu Hause ist. Sommelier Jelle, dunkelhaarig mit Bärtchen, erzählt uns, dass es die Brauerei seit 1994 gibt. Seit 2010 wird in der Kirche unter Buntglasfenstern Bier gebraut und ausgeschenkt.
Ob es dagegen Proteste gegeben hat? Jelle lacht. „Nein überhaupt nicht.“ Die Brauerei habe die Kirche gerettet, sie wäre sonst abgerissen worden. Und überhaupt: Bier und Kirche – das passe doch wunderbar zusammen, schließlich hätten die Mönche im Mittelalter auch Bier gebraut. Auch in Haarlem hat Bierbrauen Tradition, in der eindrucksvollen St. Bavokirche gibt es eine eigene Brauerkapelle. Doch besonders beeindruckend ist die große Orgel von 1735, auf der schon der zehnjährige Mozart gespielt hat.
Auf dem Rückweg verfahren wir uns wie erwartet. Aber freundliche Holländer – ja, wir sind in Holland! – weisen uns den richtigen Weg.
Nach dem Dinner noch ein Abendspaziergang in Zaandam zum Haus, in dem der russische Zar Peter kurze Zeit gewohnt hat. War da was mit „fliegendem Holländer“? Auffallend das Inntel-Hotel, das scheinbar aus lauter aufeinander gestapelten holländischen Häusern besteht.
Zurück nach Amsterdam
Am nächsten Morgen ist das Wetter eher trüb, aber es sieht zumindest nicht nach Regen aus. Wir entscheiden uns für die kleine Tour. 26 Kilometer bis Amsterdam. Nach einer Fahrt durchs Gewerbegebiet bietet die Polderlandschaft nochmal alles an Schönheit auf, viel Grün, spiegelglatte Seen, kleine Brücken, winzige alte Häuser und überall Hortensien in Fülle. Wir sind schon in Amsterdam ohne es bemerkt zu haben, weil uns der Radweg immer entlang eines Kanals oder durch eine Parklandschaft führt.
Eine Fähre bringt uns zum Hauptbahnhof. Hier wird’s etwas hektisch. Nicht nur Radler sind auf den Radwegen unterwegs, auch Elektroroller und kleine Autos, die man wohl ohne Führerschein fahren darf. Das Boot ist noch nicht da, wir lassen uns durch Amsterdam treiben, entlang der Grachten und durch die Gässchen. Im trendigen Grasshopper schmeckt uns die Fischplatte zum Bier.
Ein bisschen wehmütig schauen wir auf die Radparkplätze und die breiten Radwege. Ja, die Niederlande sind schon ein Radlerparadies.
Was man braucht
Regenfeste Radkleidung, Sonnencreme, vielleicht noch ein Hoody, ein Multifunktionstuch (Buff) und Radhandschuhe. Unbedingt Handy und Kreditkarte. Für den öffentlichen Nahverkehr auch eine Maske.
Getrost zu Hause lassen kann man den Radlerhelm, die Niederländer fahren meist ohne. Radtaschen gibt’s in der Kabine.
Was es kostet
Wir waren mit Boat Bike Tours auf der Südholland-Route unterwegs: https://www.radundschiffsreisen.de/rad-und-schiff/niederlande/sued-holland-tour/
Die Zweibettkabine am Oberdeck kostet in der Saison C (Abfahrt 11. oder 18. September) 1099 Euro pro Person, im Unterdeck 949 Euro.
Hinweis: Die Reise erfolgte auf Einladung von Boat Bike Tours.
August 19, 2021
Absolut !Wert auf arte als Reise-Lust-Macher zu erscheinen, danke, Lilo , für diesen Genuss, für mich ist es immer wieder > ein Bißchen dabei Sein zu können<.