Da schau an: München, gern als Hauptstadt der Schicki-Micki-Szene apostrophiert, als Laufsteg der Adabeis, derjenigen, die unbedingt dazugehören wollen, kann auch ganz anders. Anarchisch, bunt, alternativ, vegan, nachhaltig. Da kann man in einem Hotel übernachten, in dem auch Großfamilien willkommen sind oder Jugendgruppen. Gleich neben der Wiesn‘ und das noch günstig. Die U-Bahn ist nah, auch eine Bushaltestelle. Das Auto kann also getrost zu Hause bleiben.
Noch viel schöner ist es, sich mit einer Fahrrad-Rikscha durch Münchens Altstadt kutschieren zu lassen. Ganz ohne schlechtes Gewissen, und ohne Mitleid mit dem Fahrer haben zu müssen. Das E-Bike macht‘s möglich. Schon was anderes als die Strampelei ohne Motor, wie sie früher üblich war. 170 angemeldete Fahrrad-Rikschas gibt es in München, sagt Falk Hilber – schwarzes Käppi, dunkler Bart -, der seit 2007 schon München-Touren mit der Fahrrad-Rikscha anbietet. Zehn Jahre später hat er zur problemlosen Vermittlung von Rikscha-Touren die Plattform rikschaguide.com gegründet und eine Ausbildung zum Rikschaguide initiiert.
Drei Standplätze für Fahrrad-Rikschas
Die Fahrer kommen aus allen Bereichen, sind Studenten und Rentner, Handwerker und Akademiker, Teilzeit- und Vollzeitradler. Corona hat allerdings auch in der Szene vieles verändert. „Übrig geblieben sind die, die es mit Herz machen“, so Hilber. „Die anderen, die das schnelle Geld machen wollten, sind schnell wieder weg.“ Er ist überzeugt davon, dass die E-Bike-Rikschas eine Zukunft haben. Deshalb setzt er sich auch dafür ein, die Rikschas als „Mobilitätsangebot“ zu etablieren. „Das wird kommen“, sagt der 38-Jährige mit Nachdruck. Drei feste Standplätze für die Fahrrad-Rikschas gibt es schon, zum Beispiel am Marienplatz.
Jetzt steht die Rikscha vor einem hohen Eckhaus in der Müllerstraße. Der Schriftzug „Bellevue Monaco“ leuchtet einladend. Im gut besuchten Café sitzen vor allem junge Leute, manche vor ihren Laptops. Christian (Grisi) Ganzer – graumelierter Bart, Brille, gestreifte Mütze – freut sich über den Andrang, auch wenn viele der Café-Gäste wohl nicht wüssten, dass sie in einem sozialen Projekt ihre Latte trinken. Der 54-Jährige war von Anfang an dabei und hat das Wohn- und Kulturzentrum für Geflüchtete und Bedürftige mit gegründet.
Inspiration aus Augsburg
Nur mit viel Engagement konnte die Stadt davon abgehalten werden, die lange vernachlässigten Häuser abzureißen und auf dem Areal neu zu bauen. Dabei half, dass 2015 Platz für Geflüchtete gesucht wurde. Inspiriert wurden die Aktiven auch vom Grandhotel Cosmopolis in Augsburg. „Unsere große Schwester“, sagt Grisi bewundernd, fügt aber gleich hinzu, dass „die Leute dort schon ziemlich burnout-geplagt sind, weil sie sich bei geringer finanzieller Unterstützung seit vielen Jahren selbst ausbeuten, um das Projekt am Leben zu erhalten“.
Bolzplatz über den Dächern von München
Da hat das Bellevue de Monaco inzwischen doch mehr Rückhalt in der Stadt. Geboten wird so einiges – von der Jugendlichen-WG und Kulturveranstaltungen über Sprachunterricht und offene Werkstätten bis zu Sport. Dafür hat das Bellevue buchstäblich ein Highlight. Über 112 Stufen gelangt man hinauf aufs Dach und zum wohl spektakulärsten Bolzplatz der Stadt. Hier liegt einem München zu Füßen. Der Bolzplatz ist nach Anmeldung sogar frei zugänglich.
Grisi Ganzer, der eigentlich Film studiert hat, ist sichtlich stolz auf das Bellevue-Projekt, das er als „work in progress“ beschreibt. Als etwas, das nie ganz fertig wird. „Es ist schon so, dass wir alle hier mehr machen als in einem normalen Job“, räumt er ein. Doch ohne die Unterstützung der Stadt und die 7500 Mitglieder der Genossenschaft könnte das Bellevue wohl kaum überleben. So kann man sogar expandieren – in eine kleine Pension mit zehn Zimmern ganz in der Nähe.
Zu Gast bei Bahnwärter Thiel
Die Innenstadt von München ist mit U- und S-Bahn aber auch mit Bus und Tram gut erschlossen. Also rein in die U-Bahn bis zur Haltestelle Pocci-Straße Ein kurzer Fußweg und schon ist man in einer anderen Welt. Auf dem Gelände des alten Viehhofs hat sich eine bunte Szene breit gemacht. Seit sieben Jahren lädt das Gelände unter dem Namen Bahnwärter Thiel zu Partys, Konzerten, Lesungen, Flohmärkten oder Workshops – und ab Ende November auch zu einem Weihnachtsmarkt. Hier fühlen sich Künstler und Kunsthandwerkerinnen wohl, Hobby-Gärtnerinnen und Sprayer.
Es gibt einen Atelierpark, ein Fotostudio und Platz für „urban gardening“, wo ganze Familien „ihre“ Gemüsebeete pflegen. Eigentlich sollte diese alternative Oase mit den bemalten Bahnwaggons und den bunten Containern, der langen Graffiti-Wand und den originellen Installationen bis Ende des Jahres geräumt werden – die Bebauungsplanung steht bereits. Aber inzwischen wurde der Mietvertrag bis 2027 verlängert – und Mieter wie Francesca Pellegrini atmen auf.
Second Hand als Lebensphilosophie
Die Italienerin mit den dicken schwarzen Locken hat in diesem „special place“ mit seiner ganz eigenen „Community“ ihren Second-Hand-Laden „Seconda pelle“ eröffnet. Die 30-Jährige ist Überzeugungstäterin, trägt seit zehn Jahren nur mehr gebrauchte Klamotten. Ihre Ware kommt zum größten Teil aus Neapel und ist bei Kunden und Kundinnen mit ausgefallenen Wünschen gefragt. Auch Francescas Freund Alperen Istanbuli fühlt sich in Second-Hand-Shirts und Hosen am wohlsten. Kennengelernt haben sich die Italienerin, die über ein Freiwilliges Soziales Jahr nach Deutschland kam, und der Türke, den das Studium nach München brachte, im Laden.
Und den wollen beide so lange wie möglich im Bahnwärter Thiel führen, wo sie viele Freunde gefunden haben. In der Buchstaberei zum Beispiel, wo Anna Müller nicht nur ihre Schwarz-Weiß-Grafiken anbietet, sondern auch klassische Polsterarbeiten – Handwerkskunst vom Feinsten. Gleich um die Ecke riecht es nach frischem Gebäck, nach Zimt und Kardamom. Der Duft kommt aus Maries Sauerteig-Bäckerei „Bageri“, und die kunstvoll geflochtenen Zimt- und Kardamom-Knoten schmecken lauwarm einfach himmlisch. Auch die 29-jährige Pharmazeutin mit dem Pferdeschwanz hat im Bahnwärter Thiel die Möglichkeit gefunden, ihren Traum zu verwirklichen. Die Tische in dem kleinen Raum hinter der Graffiti-besprühten Fassade sind weiß von Mehl, hier wird geknetet und gerollt. Neben den süßen Knoten backt Marie Hermann mit zwei Helferinnen Brote und Kuchen – alles vegan.
Die Luftschlösser des Hahn-Trios
Möglich gemacht haben diese alternative Szene in München die drei Hahn-Brüder Daniel, Julian und Laurin. „Luftschlösser sind ihr Metier“ lobt der Bayerische Rundfunk das kreative Trio, das neben dem Bahnwärter Thiel auch dafür verantwortlich ist, dass gleich in der Nähe ein Schiff auf einer Brücke gelandet ist. Die Utting, ein ehemaliger Ammerseedampfer, wurde von den Brüdern vor dem Verschrotten bewahrt und zu einem Kulturprojekt umgewandelt.
Eine stillgelegte Eisenbahnbrücke sollte der neue Hafen werden. Doch der Transport vom Ammersee nach München geriet zu einem Abenteuer, das weltweit Schlagzeilen machte. „Unschaffbar“ hieß es zunächst von der Bayerischen Seenschifffahrt. Für die vielleicht, aber nicht für die drei Hahn-Brüder. Das Motto von Wannda e.V., den sie mitbegründet haben „Wenn nicht jetzt, Wanndann?“, galt auch für die Utting, die heute im Besitz des gemeinnützigen Vereins ist. Vor fünf Jahren konnte der ehemalige Ausflugsdampfer an seinem neuen Standort andocken. Und wie Bahnwärter Thiel wird er dort noch weitere fünf Jahre stehen dürfen. Was im Restaurant auf den Tisch kommt, ist regional und zum großen Teil auch vegan.
Vegan in der Weißwurstmetropole
Ja, vegan. Das geht auch in der Weißwurstmetropole München. Im Restaurant Herrschaftszeiten im Tal, dem ehemaligen Paulaner, kamen sogar die ersten veganen Weißwürste auf den Tisch. „Eigentlich ein Gag zum Oktoberfest“, sagt Thomas Isermann – blonder Bart, halblange blonde Haare -, der Gründer von Greenforce („Unsere DNA ist rein pflanzlich, wir töten keine Tiere“).
Der gebürtige Stuttgarter sieht sich als „veganer Daniel Düsentrieb“, der eine für den Planeten notwendige Entwicklung anschiebt. Weg vom Billigfleisch hin zu gesunden Produkten aus weitgehend regionalen Grundstoffen. Isermann definiert sich als Genussmensch, will keine Verbote, sondern setzt auf Verführung. Schmecken sollen die veganen Alternativen auch Flexitariern. Aber Fleisch sollte nichts Alltägliches sein. „Zurück zum Sonntagsbraten“ fordert der umtriebige Greenforce-Gründer, der sich als Sportmanager schon einen Unterstützerkreis erarbeitet hat.
Die Idee für das vegane Unternehmen kam ihm auf der Plant Based Food Messe in New York, auch in diesem Jahr war er weltweit unterwegs „bei den Nestles dieser Welt“. Unterstützt wird Isermann von Promis wie dem FC-Bayern-Torjäger Thomas Müller aber auch von Feinkost Käfer, der die Greenforce-Frikadellen als „das beste Fleischersatzprodukt auf dem Markt“ auch in seinen Läden führt. „Wir sind ein Wachstumsmarkt“, ist der Unternehmer überzeugt. Trotzdem sieht er sich noch „ein bisschen wie David gegen Goliath“. Aber er ist sicher, dass „wir so nicht weitermachen können“. Seine Produkte auf der Grundlage von Erbsen und Sonnenblumenproteinen, die unter anderem mit Metzgern und Köchen entwickelt wurden, versteht er als „Gamechanger“, als etwas, das den Markt verändern wird. Die Grundrezeptur wird denn auch wie ein Schatz gehütet „im Tresor wie das Rezept für CocaCola“.
Ganzheitliche Ausstellung
Wie wäre es jetzt noch mit einem Verdauungsspaziergang? Der Archivar Max Zeidler – schwarzer Dufflecoat, Brille – steht schon bereit für eine „öko-soziale“ Führung. Sie beginnt mit einer außergewöhnlichen Ausstellung in der Galerie des Museums des Bezirks Oberbayern, die sich als „niederschwellig“ und „ganzheitlich“ versteht, barrierefrei und kostenlos ist.
Unter dem Titel „We are plants“ verbirgt sich die Zusammenarbeit zweier Künstler, die Naturnähe und die Selbstermächtigung von Menschen mit Handicap thematisieren. „München wird besser“, diesen Slogan hat sich Max Zeidler für seine Stadtführungen zu eigen gemacht, bei denen er sich mit Interessierten „durch dieses verrückte München hangelt“. Besonders am Herzen liegt ihm die soziale Nachhaltigkeit, „eine der größten Herausforderungen unserer Zeit“.
Vom Toilettenhäuschen zum Café
Aber wir sind ja in München, und da ist man von Haus aus optimistisch. „A bisserl was geht immer“, tröstet sich auch der Stadtführer und verweist auf den Kiosk „Fräulein Grüneis“ bei der Eisbachwelle. Dass das gastfreundliche Häuschen in grün-weiß einmal ein Toilettenhäuschen war, wissen nur Eingeweihte. Aber die Verwandlung passt ins Konzept der Tour. Wie sagte Zeidler am Anfang: „Für die Nachhaltigkeit sind ein langer Atem und viel Humor nötig.“
Kurz informiert
Wohnen. Jugend- und Familienhotel Augustin, Am Bavariapark 16, 80339 München, Tel. 089/5108831-0, www.augustin-hotel.com, DZ mit Frühstück 79 Euro pro Person
Pension Bellevue, Klenzestrasse 45, 80469 München, Tel. 089/202517-0, https://pensionbellevue.de DZ mit Frühstück ab 142 Euro
Stadtrundfahrten mit der Rikscha. rikscha-guide-muenchen.de
Galerie im Museum Bezirk Oberbayern, Prinzregentenstr. 14, 80538 München, www.bezirk-oberbayern.de/Kultur/Galerie-Bezirk-Oberbayern/Zur-Galerie-/
Bahnwärter Thiel Tumblingerstr. 45, 80337 München, Tel. 089/45215063, www.bahnwaerterthiel.de
Es gibt auch Führungen durch das Quartier: www.einfach-muenchen.de/fuehrung-viertel
Sozio-Ökologische Stadtführung. www.stadtfuehrer-max.de
Essen & Trinken. z.B. vegan im Soy Vegan, Theresienstr. 93, einem vietnamesischen Restaurant, das sich an der buddhistischen Küche orientiert: https://soy-muenchen.com
oder sozial im Ausbildungsrestaurant Röcklplatz, Isartalstr. 26, wo junge Menschen aus schwierigen Lebensverhältnissen die Chance auf einen sozialpädagogisch begleiteten Ausbildungsplatz haben: https://roecklplatz.de
Mehr als nur vegane Weißwurst will Thomas Issermann in Zukunft mit seinem Unternehmen für fleischlosen Genuss kreieren: www.greenforce.com
MünchenCard. Freie Fahrt im Nahverkehr und bis zu 70 Prozent Rabatt bei vielen Angeboten verspricht die MünchenCard. Für 24 Stunden kostet sie 16,90 Euro: www.turbopass.de
Informieren. München Tourismus, Herzog-Wilhelm-Str 15, 80331 München www.einfach-muenchen.de
Hinweis. Die Recherche wurde unterstützt von München Tourismus
November 26, 2023
Sehr informativ, auch für einen Münchner… 👍