Marseille: Stadt der 1000 Gesichter

Marseille hat viele Gesichter“, sagt Josiane, die Kunsthistorikerin. „Hier findet jeder, was ihm gefällt.“ Nicht umsonst trägt die Mittelmeer-Metropole mit ihren 111 Stadtvierteln, ihren 14 Häfen, 42 Theatern und 17 Museen den Beinamen „Stadt der 1000 Gesichter“. Multikulti, Sport, Kunst, Mode: Kurz bevor Marseille neben dem slowakischen Košice Kulturhauptstadt Europas wird, poliert die Stadt ihre Schokoladenseiten auf. Da gehören die Künstler und Designer, die Köche und die Fußballspieler ebenso dazu wie die Vielfalt der Kulturen. Lange Jahre galt dieser französische Außenposten als Tor zum Orient, und bis heute mischen sich hier die Kulturen wie in keiner anderen Stadt Frankreichs.

Es gibt Marseillaner mit dunklen Gesichtern und solche mit Schlitzaugen, Bürger mit glatten blonden Haaren und mit schwarzem Kraushaar. Man trifft sie in der Kirche Notre Dame de la Garde, die über die Stadt wacht und im Stadion von Olympique Marseille, in den Bars und Restaurants, wo die berühmte Bouillabaisse, die Marseiller Fischsuppe, völkerverbindend geschlürft wird. Am buntesten ist das Völkergemisch im alten Stadtviertel, dem Panier, am alten Hafen oder auch im Szene-Kollektiv „La Friche – La Belle de Mai“, das sich als „Carrefour du Monde“ sieht, als Kreuzung der Welt, und wo Kreative aus 70 Vereinen daran arbeiten, eben diese Welt zu überraschen. Es sind Maler und Tänzer, Musiker, Bildhauer, Dichter und Filmemacher, die sich hier treffen, um zu arbeiten – und zu träumen. Fürs Kulturhauptstadtjahr bekommt auch ihr Treff, eine ehemalige Tabakmanufaktur, ein Facelifting verpasst. 
Schließlich sollen die vielen Millionen Euro, die für das Kulturhauptstadtjahr fließen, nicht nur teuren Prestigebauten zugute, sondern auch in der Bevölkerung ankommen. Geld gibt’s also auch für so alternative Kunstprojekte wie Straßentheater und Design. Aber natürlich will die Mittelmeer-Metropole den Geldsegen auch dazu nutzen, um sich vom Schmuddel-Image, das an ihr klebt wie das sprichwörtliche Pech, reinzuwaschen. Doch was helfen Prestigebauten wie der Glaskasten des Museums für Europäische und Mittelmeer-Zivilisation (MuCEM) oder die gewagte Raumskulptur des Centre régional de la Méditerranée(CeReM), wenn binnen eines Monats fünf Menschen bei immer wieder aufflackernden Bandenkriegen ihr Leben lassen wie dieses Jahr im September?
Soziale Konflikte sind Alltag in der Zwei-Millionen-Stadt, in der ein Drittel der Einwohner an der Armutsgrenze lebt. Marseille ist eine arme Stadt, die gerne reich wäre. Da kommt das Geld für das Kulturhauptstadtjahr wie gerufen: Das „größte Stadterneuerungsprogramm Europas Euroméditerranée“ soll internationale Investoren anlocken, Arbeitsplätze schaffen – und neue touristische Hotspots. Die ganze Hafenfront wird erneuert. Mit Les Terrasses du Port entsteht das erste europäische Einkaufszentrum direkt am Meer mit über 160 Geschäften und Restaurants. Architektur-Ikone Zaha Hadid schuf mit dem 142 Meter hohen Turm für die Reederei CMA CGM, der 2010 von der Jury des Emporis Awards zum weltweit drittschönsten Wolkenkratzer gekürt wurde, gar ein neues Wahrzeichen für die Cote d’Azur. Im ehemaligen Kornspeicher Le Silo d’Arenc entstand eine Veranstaltungshalle, und direkt am Hafen ist eine Flaniermeile geplant, die mit exklusiven Geschäften und Boutiquen auch zahlungskräftige Kundschaft anzieht. 
Und dann gibt es da auch noch den „Ersten großstädtischen Wanderweg“, im Sinn der Land Art auch eine Art Kunstwerk, erschaffen von wandernden Künstlern und kunstsinnigen Wanderern. Über 260 Kilometer führt dieser Weg durch Industriebrachen, Gewerbeflächen und Fabrikgelände aber auch durch unberührte Natur – immer abseits der üblichen Touristenrouten. 
Künstler zog es schon immer in diese exponierte Ecke im Süden Frankreichs. Im kleinen Hafen des Fischerdorfs Estaque malten Braque und Cézanne, Derain und Dufy. Während des Dritten Reichs war Marseille Fluchtpunkt und Transithafen für die europäische Intelligenz, ihr Ziel war das Büro des „Centre Américain de Secours“ (CAS) im Hafenviertel. „Hier, wo jede Ecke, jedes Hotel, jeder Platz, jedes Café eine reiche und tragische Geschichte erzählen kann, kreuzten sich die Wege so vieler Künstler, Politiker und Intellektueller, dass selbst eine nur auswählende Aufzählung einen leichten Schwindel bei jedem Biografen verursachen kann“, schreibt Markus Bauer im „Freitag“. Heute prägen die Filme Robert Guédiguians das Bild der Stadt und ihrer Bewohner wie es früher einmal die Geschichten und Filme Marcel Pagnols taten. 
Ja, die älteste Stadt Frankreichs hat tatsächlich viele Gesichter, schöne und hässliche, auf keinen Fall aber langweilige. Im Kulturhauptstadtjahr sind alle Bewohner aufgefordert, zu diesen Gesichtern beizutragen. Sie können mit ihren Fotos ein Album der Stadt mitgestalten, in einer riesigen Freiluft-Galerie aktiv werden und sich mit Künstlern austauschen, die 2013 nach Marseille kommen. Das Kulturhauptstadt-Programm sprengt die Grenzen der Stadt und beteiligt mit „Marseille Provence 2013“ auch andere Gemeinden des Départements Bouches-du-Rhône wie Aix-en-Provence, Arles oder La Ciotat. Geplant sind natürlich große Ausstellungen über das „Mittelmeer und die Schifffahrt“, über die „Maler des Südens“ aber auch über Albert Camus (in Aix) und über Le Corbusier, der seine erste „Wohnmaschine“ auf dem Boulevard Michelet verwirklichte. Mindestens ebenso wichtig sind die Open Air Konzerte wie die EuroPride, die Straßentheater und Literaturlesungen und so originelle Ideen wie die „TransHumance“, bei der Reiter und Herden in einer Art Choreographie in drei Zügen durch die Ebenen der Provence nach Marseille ziehen. Am Ende des Kulturhauptstadtjahres wird der alten Stadt mit den 1000 Gesichtern noch einmal gehuldigt – in 1000 Gestalten. 
Info: Das Kulturhauptstadtjahr gliedert sich in drei Themenbereiche: Marseille Provence empfängt die Welt, Marseille Provence unter freiem Himmel und Marseille Provence in tausend Gestalten. Am Samstag, 12. und Sonntag, 13. Januar 2013 wird das Jahr mit einer Musik- und Lichtshow am Meer eingeläutet. Zeitgleich wird eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst im Zentrum von Aix-en-Provence eröffnet und findet eine Schnitzeljagd zwischen Istres und La Ciotat statt. Über das ganze Jahr sind über 400 Veranstaltungen geplant, zehn Millionen Besucher werden erwartet. Mehr zum Programm unter http://www.mp2013.fr/, http://www.marseille.fr, http://www.marseille-tourisme.com/
2 Kommentare
  • Autoreisen Europa
    Dezember 10, 2012

    Marseille gehört zu den Städten die noch auf meiner Liste stehen, die ich unbedingt besuchen möchte. *Autoreisen* durch *Europa* sind immer spannend und interessant. Ich denke mein nächster großer Sommerurlaub wird mich nach Südfrankreich führen. 🙂

    • Heiner Kämpken
      April 29, 2013

      Hallo,

      auf meinem Weg nach Barcelona habe
      ich seinerzeit in Marseille Zwischen-
      station gemacht.Ich war zutiefst beeindruckt.
      Man sollte sich einige Tage Zeit nehmen,um
      die Vielfalt dort zu entdecken.An manchen
      Stellen kann man die Geschichte geradezu riechen,
      die hier geschrieben wurde.

      Herzliche Grüsse

      Heiner Kämpken
      http://primafreizeitparks24.com

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