Hinter den sieben Bergen

Zelten ist verboten und Abfälle sind mitzunehmen, verkündet ein großes Schild am Parkplatz. Mitten in der Natur steht ein Dixie-Klo am Weg, die Kühe haben noch Hörner oder tragen einen eisernen Hörnerschutz, Hühner gackern auf den Weiden, eine dreifarbige Katze streicht am Zaun entlang. Hinter den sieben Bergen im Toggenburg scheint die kleine Schweizer Welt noch in Ordnung. Wer sich da nicht anpassen will, muss eben draußen bleiben.

Drinnen in ihrer Märklin-Landschaft, über die sieben „Churfirsten“ (so
heißt die charakteristische Bergkette mit den schroffen Felsnasen)
wachen, haben es sich die Toggenburger gemütlich gemacht. Sie haben sich
Häuser gebaut, behäbig und wetterfest im Schindelkleid, mit prächtigen
Blumenbalkonen. Sie haben schlanke Kirchen hingestellt mit spitzen
Türmen wie Wegweiser zum Himmel. Und sie sind selbst ein Teil dieser
Landschaft geworden wie der Käser auf der Alpe Troosen, Ring im Ohr,
graue Haare und ein Oberkörper der einem Fitness-Trainer alle Ehre
machen würde. Köbi (Jakob) Knaus ist 63 und seit er denken kann alle
Sommer auf der Alm, im Hochsommer sogar noch weiter oben. Wie der Vater
und der Großvater und der Urgroßvater.
In der Käserstube ist es bacherlwarm, der Dampfkessel wird mit Holz
beheizt. Er wärmt den Boiler für das heiße Wasser, das der Käser
braucht, und heizt auch den Kessel mit der frischen Milch auf. Bei 31
Grad wird Lab zugesetzt – und Milchsäurebakterien. Wenn die Milch
stockt, schneidet der Köbi die Masse mit der Käseharfe bis eine Art
Hüttenkäse entsteht. Dann fischt er mit einem großen Tuch die Masse aus
dem Kessel und schneidet sie in Portionen, die in einem runden Topf
gepresst werden. Der fertige Käse kommt noch in ein Salzbad und ruht
danach im Raum nebenan, wo es kühl ist und dunkel. Gleich gegenüber über
dem Stall schläft der Köbi. Nur hin und wieder fährt er sommers ins
Tal, wo seine Frau lebt – und die beiden Söhne.
Die sieht er jeden Tag, wenn sie zum Melken auf die Alm kommen. Die
Buam, sagt er und seine blauen Augen glitzern amüsiert, „müssen schon
früh aufstehen.“ Er höre sie immer kommen, wenn er noch im Bett liege.
Jedem das seine, eben. 38 und 40 Jahre alt sind die „Buam“und dass sie in
Vaters Fußstapfen treten, ist selbstverständlich.
Berühmt ist der Köbi für seinen Bloder-Kas, eine Art sauren Käse,
schmackhaft, fett- und kalorienarm – ein Lifestyle-Käse sozusagen. „Der
Bloder-Kas ischt eigentlich der Ur-Kas“, doziert der Käser, während er
Brot und Käse für die Gäste aufschneidet. Vor 1000 Jahren schon sei Käse
so hergestellt worden, ohne Lab, nur durch Säuregerinnung. Viel später
habe dann der Labkäse den alten Sauerkäse verdrängt. Nur in abgelegenen
Tälern wie dem Toggenburg hat sich der traditionelle Käse erhalten.
Zehn Tonnen Lab– und drei Tonnen Sauerkäse produziert der Käser auf
Troosen
. Wie lang er dafür arbeitet? Der Köbi grinst. Was für eine
Frage! 16 Stunden könnten das schon sein. Manchmal arbeitet er bis
Mitternacht. Aber er fühlt sich wohl dabei, vermisst nichts, wenn er
hier oben ist, wo die Murmeltiere pfeifen und der Steinadler seine
Runden dreht. Da braucht er weder Fernsehen noch Radio. Nur aufs Handy
würde er nicht mehr verzichten wollen. Genauso wenig wie auf seine
Urlaube, die ihn nach Südamerika geführt haben oder nach Afrika. Zurück
kommt er immer gerne. Denn so frei und unabhängig wie auf der Alm ist
für ihn das Leben nirgendwo sonst.
Auch der Frey Hans ist ein Toggenburger aus Überzeugung. Der ehemalige
Postbeamte mit dem weißen Haarschopf und den listigen Äuglein verdient
sich im Alter ein Zubrot als Wanderführer. 81 Jahre hat er schon auf dem
Buckel aber er schreitet wacker voran. Pilze will er erklären, die
Blumen am Wegrand und ein bisschen was erzählen über die Gegend, die
sich noch in ein graues Nebelkleid hüllt. Es kann nur besser werden.
„Hat der Säntis einen Hut, wird das Wetter gut“, zitiert der Hans
aufmunternd eine Volksweisheit. Nebenbei hat er schon den ersten Pilz
erspäht, unscheinbar braun und klein ist der Risspilz, dafür ganz schön
giftig. Der Hallimasch dagegen, auch Baumzerstörer genannt, weil er den
Bäumen buchstäblich das Leben aussaugt, muss nur abgekocht werden, um
ihm das Gift auszutreiben. Auch den nebelgrauen Trichterling sollte man
vor dem Essen besser abbrühen, rät der Hans. „Der Italiener“ esse ihn
zwar ohne ihn vorher zu kochen, „aber der isst ja alles“. Sagt’s und
pflückt einen zitronengeleben Schafporling. „Den muasch in Essig und Öl
eilega“, rät er. Am besten schmecke er so zu Raclette. Essbar ist auch
der braune Ledertäubling („gut kochen und würzen“), der grüne
Anis-Trichterling
(„riecht gut“), der geschuppte Habichtpilz („trocknen
und reiben“) und auch der Mohrenkopfmilchling („sehr lecker“). Vom
Säufernasentäubling sollte man dagegen lieber die Finger lassen
(„bitter“) ebenso wie vom weißen Raßling, der zu Missgeburten führen
kann.
Noch viele Pilze, kleine und große, macht der Hans ausfindig, auch ein
Steinpilz ist dabei und ein mickriger Pfifferling. Aber auch für Blumen
hat der alte Mann was übrig, fürs seltene Eisenkraut mit den winzigen
lila Blüten, für die weißen Studentenröschen oder auch für die
glockenartigen Blüten des Augentrost. „Wenn die Milchschellen blühen,
geben die Kühe auf der Alm keine Milch mehr“, doziert er. Es ist soweit:
Der Köbi muss wohl bald runter von der Alm. Dann ist er wieder Herr im
Hause drunten in Alt St. Johann.
Für den Wirt vom Rössli daselbst ist der Herbst die schönste Jahreszeit,
weil er dann seiner Leidenschaft frönen kann, der Jagd. Georges
Schlumpf, groß und beleibt mit rundem Gesicht und jovialem Lächeln ist
Koch und Jäger. Seit vier Generationen schon gehen die Männer seiner
Familie auf die Jagd. „Wir müssen hier jagen“, sagt er fast
entschuldigend. Sonst gebe es zu viel Wildverbiss im Wald und die
Lawinengefahr würde wachsen. Aber der Koch jagt nicht nur aus
Pflichtgefühl, sondern aus Begeisterung. „Da isch a Feuer“, sagt er und
schnauft glücklich. Der Steinbock, der fürs Abendessen dran glauben
musste, war noch jung, zweieinhalb Jahre, „aber fußkrank“. Gesunde Tier
dürfen erst ab elf Jahren geschossen werden. „Die taugen dann nur mehr
für an Gulasch.“ 150 Stück Wild – Gams, Reh, Steinbock – wandern im
Rössli jedes Jahr in Topf und Pfanne. Das Haus ist für seine feinen
Wildgerichte bekannt und Mitglied bei den GildeRestaurants, einer
Vereinigung von Gasthöfen, in denen die Wirte – seit kurzem dürfen es
auch Wirtinnen sein – selber kochen, wie der Rössli-Wirt erklärt.
Traditionell ist die Küche und regional aber durchaus auf der Höhe der
Zeit. Auf der Speisekarte steht Rehpfeffer mit Spätzli und Rotkraut,
Gamsbraten mit Rotkraut und Polenta aber auch Hirschcarpaccio.
So etwas kommt im Alpstöbli von Markus Nef nicht auf den Tisch. Liegt
Alt St. Johann schon weitab der touristischen Ströme hinter den sieben
Churfirsten, ist Hemberg ganz hinten im Tal – und das Alpstöbli schier
am Ende der Welt. „Wir sind die Indianer der Ostschweiz“, sagt Markus
Nef und legt die Stirn in Falten. Der groß gewachsene Mann mit dem
schmalen Gesicht und der Intellektuellenbrille fühlt sich immer öfter
wie der letzte Mohikaner. „Alle können ja nicht abwandern“, macht er
sich selber Mut. „Ich habe hier meine Wurzeln und bleibe solange ich
kann.“ Markus und seine Frau führen jetzt in der fünften Generation das
Alpstöbli
, das früher „Handlung“, Bäckerei und Milchzentrale war und
heute ein Bauernhof und eine Wirtschaft ist. Ob es hier eine sechste
Generation geben wird, weiß niemand. Die Tochter und die Söhne der
Familie haben anderswo Karriere gemacht, in Zürich der eine, in St.
Gallen die anderen.
Markus Nef ist geblieben. Er hat sich auf die Produktion von „Bio
Weidebeef
“ spezialisiert, ein spezielles Label fürs gute Gewissen der
Fleischesser, das auch über den großen Migros vertrieben wird. „Wir sind
die einzigen, die Tiere stressfrei aufladen, transportieren und
schlachten“, erklärt der Bauer stolz und berichtet von „Wohlfühlkuppeln“
im Schlachthof von St. Gallen. 24 Monate dürfen die Tiere ihr relativ
freies Leben genießen, ehe sie dran glauben müssen, sie fressen würziges
Gras und haben freien Auslauf – auch im Stall. Das Fleisch seiner
Rinder, so Markus Nef, sei sehr schmackhaft und das „teuerste
Rindfleisch auf dem Schweizer Markt“.
Wie gut es schmeckt, können die Gäste im Alpstöbli testen. Der Chef
serviert selbst. Und manchmal zeigt er seinen Gästen, warum er nicht weg
will aus der Gegend. Dann geht er mit ihnen ins Ofenloch, zur Quelle
des Necker, dahin, wo der Auerhahn sein Revier hat und wohin man nicht
trockenen Fußes kommen kann. Es gibt weder Weg noch Steg, die dunklen,
steilen Felswände scheinen den schmalen Bachlauf zu erdrücken, die
Wanderer hangeln sich am Ufer entlang, springen von Stein zu Stein und
klettern über glitschige Felsvorsprünge. Nur manchmal hängt da ein Seil
als Hilfestellung. Sonst ist die Natur ganz bei sich, ein Rückzugsgebiet
auch für Gämsen und Hirsche. Hier sind sie sicher vor Jägern wie dem
Maitre Schlumpf.

Info: Toggenburg Tourismus, Lisighaus, 9658 Wildhaus/Schweiz, Tel.
0041/71998 6000, E-Mail: marketing@toggenburg.org, www.toggenburg.org

Ein Kommentare
  • manu
    April 15, 2012

    gefällt mir – die dialektschreibweise irritiert allerdings ziemlich. das sieht österreichisch oder bayrisch aus, weit weg vom schweizerdeutschen! da hilft wohl bloss eines: nochmals herkommen und genau hinhören 🙂

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert