Fremde Welt: Selim Özdogans „Heimstraße 52“

„So ist das Leben, sagt Gül, bald werde ich noch ein Kind bekommen, und es werden noch mehr Dinge geschehen, die ich mir nicht gewünscht habe.“
Gül, die Tochter des Schmieds aus Anatolien, ist ihrem Mann nach Deutschland hinterher gezogen. Sie hat ihre kleinen Töchter zurück lassen müssen, ihren Vater, ihre Wurzeln. Und der Mann, zu dem sie zieht, ist ihr fremd geworden.
So fremd wie das Land und seine Sprache. Fuat ist in der Fremde zum
Trinker geworden, das Geld reicht hinten und vorne nicht. Doch Gül beißt
die Zähne zusammen und sich durch. Sie isst sich eine Fettschicht an,
die sie immun macht gegen Fuats Trinkexzesse, seine ständigen Vorwürfe,
die Lieblosigkeit des Alltags, und sie gewinnt mehr Selbstvertrauen.
Das kann sie auch brauchen, als sie zurück in die Türkei geht – mit der
in Deutschland geborenen Tochter, aber ohne Mann. Der bleibt wo er ist,
hat sich sein Leben eingerichtet, auch ohne Gül. Sie aber muss erfahren,
dass ihr die Heimat fremd geworden ist, dass die Menschen im Dorf sie
mit anderen Augen sehen. Auch wenn sie den geliebten Vater jetzt täglich
sieht, auch wenn sie ihre Schwestern besser kennen lernt, wird Gül in
diesem Dorf keine Wurzeln mehr schlagen. Sie erkennt, dass ihr Glück
nicht von dieser Welt ist. Etwas fehlt immer, auch wenn sie sich noch so
bemüht. Am Ende kehrt sie nach Deutschland zurück, zu einem Mann, dem
sie nicht willkommen ist.
Selim Özdogans Roman erzählt vielleicht eine ganz normale
Gastarbeitergeschichte, aber der Autor tut das mit soviel
melancholischer Poesie, dass Gül dem Leser ans Herz wächst – selbst wenn
er sie noch nicht aus dem Vorgänger-Roman „Die Tochter des Schmieds“
kannte. Denn Gül hat ein großes Herz, in dem alle Platz haben – die
Töchter und ihre Freunde, auch der treulose Ehemann. Glück ist für sie
das Glück der Töchter: „Immer wieder wirft sie einen Blick auf die
Mädchen und jedes Mal ist es, als würde ihr Herz ein wenig weiter
werden, bis es nicht mehr in sie hineinpasst, bis es die ganze Küche
ausfüllt, bis sie glaubt, diese Wärme könnte ein Haus heizen. Wie
friedlich und glücklich sie aussehen und wie das Glück auf sie
überschwappt und noch größer wird. Was könnte schöner sein als eine
Tochter, der es gut geht?

Info: Selim Özdogan, Heimstraße 52, Aufbau, 300 S., 19,95 Euro

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