Dolomiten: Der Appetit kommt beim Skifahren

Der Schnee ist leicht, ein bisschen wie Puderzucker; wenn er aufstäubt, glitzern im Sonnenschein winzige Kristalle wie Sternenstaub. Die Pisten sind perfekt gewalzt, kein Buckel nirgends. Die Carver drehen fast wie von selbst und der Blick schweift über ein Panorama, das Weltkulturerbe ist: Die bleichen Zacken der Dolomiten, die nicht nur Reinhold Messner als die schönsten Berge der Welt empfindet.

Die Sella Ronda, schon seit Jahren der Inbegriff des Genussskifahrens,
zieht die Wintersportler in Scharen an. So sehr haben sich die Grödener
schon an die Skifahrer-Lawine gewöhnt, die sich jeden Winter durch
Wolkenstein wälzt, dass sie kleine Straßen im Ort in Skipisten
umgewandelt haben. Auf der Durchgangsstraße, vor der die Skifahrer ihre
Bretter abschnallen müssen, hält ein Verkehrspolizist die Autos auf,
damit die Wintersportler sicher zur Bergbahn kommen. Hier haben
Skifahrer und Snowboarder Vorfahrt.
Für sie dreht sich alle Winter wieder das Skikarussell von Dolomiti
Superski
, mit 1200 Pistenkilometern und 450 Aufstiegshilfen das größte
der Welt. Bequeme Sessellifte mit Hauben und moderne Umlaufgondeln
schaufeln die Wintersportler in luftige Höhen und bis hinauf ins ewige
Eis der Marmolada. Alles ist perfekt organisiert, damit Skifahrer und
Snowboarder so wenig wie möglich laufen müssen – mit Rolltreppen und
Zauberteppichen, einer U-Bahn und jeder Menge Verbindungslifte. Und
doch gibt es sie noch, Relikte aus alten Skifahrerzeiten wie den
hölzernen Einersessel zur wunderbar leeren Piste Averau. Mit sich
allein schwebt man in gemächlichem Tempo über die winterweiße
Berglandschaft rund um die Cinque Torre – ein entschleunigtes
Naturerlebnis im 3D-Format.
Und dann sitzt man im Rifugio Averau, wo Paola und Sandro Siorpaes ihre
Gäste mit raffinierten Gerichten verwöhnen, die einer Sterneküche
würdig sind – auf 2400 Metern Höhe. Der Lardo auf Toast zergeht auf der
Zunge und für die Papardelle mit Steinpilzen und Speck würde man glatt
auf die nächste Abfahrt verzichten. Hat man doch auf der Terrasse alles
im Blick: die schneeweiße Marmolada, die Königin der Dolomiten, die
wuchtige Felsmauer der Civetta, die scharfkantigen Gipfel der Tofana
und drunten das Tal, in dem sich Cortina d’Ampezzo ausnimmt wie eine
Spielzeugstadt.
Zwei Seelen streiten da in der Brust: Der Skifahrer will so schnell wie
möglich wieder in den knirschenden Schnee, will in weiten Bögen
genussvoll die schön ondulierte Piste hinunter ziehen. Der Genießer
würde am liebsten den ganzen Tag in diesem kulinarischen Olymp
verträumen, den süffigen Wein schlürfen und sich durch die Speisekarte
schlemmen. Doch es gibt einen Ausweg für beide: die nächste Hütte. In
den Dolomiten ist die mit Sicherheit nicht weit.
Die Dichte der Hütten und die Kochkunst der Wirte oder ihrer Köche
machen das Skifahren im Weltkulturerbe zum Genuss – auch wenn sie
verhindern, dass man mal so richtig durch fährt. Wer will schon an der
Comici-Hütte vorbeifahren, wenn er doch weiß, dass hier Meeresfrüchte
auf den Tisch kommen, die selbst den an der Adria wohnenden Italienern
den Mund wässrig machen? Chef Igor Marzola, ein gemütlicher Dicker mit
dunkler Haartolle, ist die Fleisch gewordene Einladung zum Sündenfall.
Unter den Augen von Schranz, Thöni, Stenmark und anderer Skigrößen
servieren die Kellner im „Sanctuarium der Sportskanonen“, dem Stüberl,
gewaltige Vorspeisenplatten mit Muscheln und Gambas, Spaghetti mit
frischem Fisch oder auch Hummer. Papa Gianni Marzola, Gründer und
langjähriger Präsident von Dolomiti Superski,  hatte die Idee: Statt
direkt vor Ort verkaufte er die Produkte seiner Fischzucht in Venedig
lieber in der Hütte hoch oben auf dem Berg. 25 Jahre ist das her und
seither gilt die Comici-Hütte unter dem Langkofel bei Feinschmeckern
als Muss. Dreimal wöchentlich lassen Igor und seine Brüder frischen
Fisch aus der eigenen Zucht bei Grado anliefern. Die Scampi und der
Hummer freilich haben eine weitere Reise hinter sich. Sie kommen aus
Kanada. Auch George Clooney hat das Rifugio schon entdeckt – und
draußen in der Lounge im Schnee lassen sich ein paar Schöne und Reiche
eisgekühlten Champagner schmecken, während sie sich – in dicke Pelze
gehüllt – auf den weißen Sofas rekeln.
Das ist die Klientel, die auch die Moritzino-Hütte gerne anspricht,
oder der Club Moritzino, wie die Nachtschwärmer gerne sagen. Sie
erklimmen den Piz La Ila am liebsten mit einer Schneekatze, um nach dem
„Hüttenabend“ bei Discomusik und Gourmetessen unterm Sternenhimmel die
Gran Risa hinunter zu kurven. Und wenn die Sterne am Himmel nicht
genügend strahlen, dann weisen die Lichtkegel der Pistenraupen den Weg
ins Tal. Moritz Craffonara heißt der Chef, der – mit den langem
Grauhaar und Designerbrille – so gar nicht dem Klischee eines
Hüttenwirts entspricht genauso wenig wie seine Hütte dem Bild, das man
sich von einem Rifugio in den Bergen macht. Die feinen Vorspeisen
(Lachstartar, Melone mit Schinken, roher Fisch) sind in Löffelchen auf
großen Spiegelplatten angerichtet. Die Champagnerkelche schimmern im
Kerzenlicht. Silberne Kandelaber stehen auf dem Tresen unter der
dunklen Holzdecke. An einer Wand hängen Bilder der Promis, die dem
Moritzino schon die Ehre gaben. Gunther Sachs ist dabei, Fürst Albert
von Monaco
und die Benettons. Der Discjockey legt Tanzmusik auf von Pop
bis Hip Hop, von Reggae bis Indie und die kleine Tanzfläche füllt sich
schnell. Craffonaras Abend-Rezept kommt an. Eigentlich könnte sich der
Mittsechziger befriedigt zur Ruhe setzen. Doch der Mann steckt noch
voller Ideen. Schon lange träumt er von einer Art Ufo-Hotel, einer
Kapsel, die nahe der Hütte schwerelos über dem Boden schwebt. Im Modell
tut sie es schon. Aber die Verwirklichung lässt auf sich warten.
„2012“, sagt der Utopist, sollte es klappen. „Oder doch eher 2014“,
schiebt der Realist nach. Es ist ja auch eine Frage des Geldes.
Die Weißwürste dampfen auf dem Teller, das Weißbier schäumt im Glas,
knusprige Laugen-Brezen stehen auf dem Tisch. Doch dies ist kein
Münchner Biergarten, auch dies ist eine Hütte in den Dolomiten. Und die
„Original Münchner Weißwürste“ auf der Vallongia Hütte, die „Wurstel
bianchi“, liefert ein Metzger aus Meran. Nach Münchner Rezept, versteht
sich. Sie munden auch im Schnee draußen vor der Hütte, wo die Sonne
scharfe Konturen in den wuchtigen Sellastock zeichnet. Auf den
rustikalen Holzbänken rücken die Skifahrer gerne zusammen. Ein Prosit
auf Annemarie und Rene Mussner, die Wirtsleute und ihr
Weißwurstfrühstück auf 2040 Metern Höhe. Nur gut, dass das Weizenglas
ein kleines ist. So kann man doch noch die steile Saslong-Abfahrt mit
ihren gefürchteten Bodenwellen unter die Skier nehmen. Nur nicht zu
übermütig werden: Die Kamelbuckel haben’s ins sich und nicht jeder
Skifahrer ist ein Bode Miller oder eine Maria Riesch.
Zum Abschluss dann noch eine Prise Romantik in der Heilig-Kreuz-Hütte
unter dem Kreuzkogel. Eine Kulisse, die so oft fotografiert und gefilmt
wurde wie kaum eine in den so bilderreichen Dolomiten. Das ehemalige
Pilger-Hospiz im Schatten des 500 Jahre alten Wallfahrtskirchleins
Santa Croce hoch über Pedraces muss erstiegen werden. Kein
Verbindungslift oder Zauberteppich überwindet die paar Höhenmeter von
der Liftstation bis  Hier kommt Klassisches auf den Tisch, ein süßer
Kaiserschmarr’n oder eine deftiger Kartoffelpfanne mit Eiern. Portionen
für Schwerstarbeiter wie Erwin Isara einer ist. Der kleine, drahtige
Mann ist Mesner und Koch in Personalunion. Auch die Glocke regelmäßig
zu läuten zählt zu seinen Aufgaben. Wenn es wieder mal soweit ist,
müssen die Gäste im Hospiz schon mal ein paar Minuten aufs Essen
warten. Es lohnt sich.
Draußen tanzen Nebelschwaden um die Kreuze auf dem Friedhof, über dem
Kreuzkogel hängt eine dicke schwarze Wolke. Nichts da von Enrosadira,
dem viel beschworenen Abendrot, das die bleichen Berge zum Leuchten
bringt. Schon tanzen dicke Schneeflocken um den Kirchturm. Zeit zum
Aufbruch. Bei der Abfahrt nach Sankt Kassian laufen die Ski wie von
selbst.
Und am Abend wartet in Armentorola der nächste Genuss: Ein Menü im
ausgezeichneten Restaurant La Siriola, wo Claudio Melis extravagante
Eigenkompositionen auf den Tisch bringt. Der Verwandlungskünstler
versteckt seine rosaroten Kalbsbäckchen in einer Morchelkruste und
lässt Gorgonzola zu Eis gefrieren – welch ein Gegensatz zu Erwin Isaras
traditioneller Bauernküche. Und doch passt beides wunderbar in diese
winterweiße Genusslandschaft unter den Dolomiten.

Ein Kommentare
  • monei
    September 20, 2012

    Hallo Lilo,

    sehr schön geschriebener Artikel, der Lust macht gleich aufzubrechen!

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