Diese Bogenbrücke kennt jeder James-Bond-Fan. In „Skyfall“ fand auf dem Viadukt eine dramatische Verfolgungsjagd statt.
Die eingleisige Giaudere-Brücke, ein Meisterwerk deutscher Ingenieurskunst, wurde für die Bagdadbahn Anfang des letzten Jahrhunderts errichtet. Die Strecke durch das Taurusgebirge, für die Tunnels in den Fels gesprengt und Viadukte errichtet werden mussten, war für die deutschen Ingenieure und Bauarbeiter damals eine große Herausforderung. Emil Heubusch, der zwischen 1910 und 1919 als Ingenieur an mehreren Baustellen der Bagdadbahn tätig war, berichtete 1910 darüber in der Belletristischen Beilage der „Augsburger Abendzeitung“.
Für die in im Zug mitreisenden Bahnfans ist die Brücke einer der Höhepunkte der Reise durch den Iran und Ostanatolien. Sie sind nicht wegen der Moscheen und Königsgräber, wegen der Ruinen der Paläste und der Mausoleen auf Reisen gegangen. Ihr Ziel ist die Bahntrasse selbst und vor allem die Strecke durch das Taurusgebirge. Dass unser Zug für die Fotografen die Brücke zwei Mal überquert, macht so manchen Hobby-Eisenbahner unter den Mitreisenden denn auch besonders glücklich.
Inzwischen haben wir uns alle an unsere fahrende Unterkunft gewöhnt, an die eher spartanischen Abteile und die Gemeinschaftsduschen. Da kann es schon mal passieren, dass einem Frühaufsteher ein Mensch im Badetuch oder in der Unterhose über den Weg läuft – ein bisschen Jugendherbergsfeeling. Weil ich über das Alter hinaus bin, bin ich froh, dass wir hin und wieder in Hotels übernachten, wo man in aller Ruhe duschen und sich in einem großen Bett ausstrecken kann. Andere sehen das nicht so, sie würden am liebsten nur im Zug reisen und die Landschaft an sich vorübergleiten lassen wie in einem Road Movie. „Ich habe bestimmt schon drei Mal die Welt mit der Bahn umrundet“, erzählt mir ein älterer Herr, der großen Wert auf den Doktor vor dem Namen legt. „Ich rede nicht, ich schaue nur und ich sehe immer etwas.“ Zum Beispiel die abgestürzte Lok, auf die wir zwischen zwei Tunneln einen Blick erhaschen, die Vögel über den leeren Feldern, die weißen Wolken, die auf die Berge schwarze Schatten werfen.
Im Zug geht es derweil bei einem Vortrag um den Islam, um Schiiten und Sunniten, um Islamismus und religiöse Toleranz. Nebenbei finden Wettrennen zur Dusche statt und zwischen den Abteilen Gespräche über die Kurden-Politik Erdogans.
Dass der Zug erstmals die Grenze zwischen dem Iran und der Türkei überquert, ist in diesen unruhigen politischen Zeiten keine Selbstverständlichkeit. Gleich hinter der Grenze begleitet uns ein gepanzertes Polizeifahrzeug. Des Nachts waren wohl Steinewerfer an den Gleisen. Ein paar Abteilfenster müssen erneuert werden. Ausgangssperre in Van, Polizisten beim Frühstück im Hotel. Gerüchte über Kurdenunruhen in Deutschland.
Wir merken von alldem nichts, steigen hinauf auf die Festung von Van und schauen hinunter auf die Ausgrabungen in der Ebene. Unter dem blauen Himmel funkelt karibikgrün der Vansee. Der größte See der Türkei, sieben Mal so groß wieder Bodensee, ist eingebettet in eine großartige Berglandschaft. Für uns ist die Fahrt mit dem Schiff auf die Insel Akdamar eine angenehme Unterbrechung der Bahnreise und das kleine Konzert in der schönen armenischen Kirche zum Heiligen Kreuz eine echte Überraschung. Die Reliefs an der Fassade erzählen Geschichten aus der Bibel, im Innenraum sind die Fresken verblasst, auf dem kleinen Friedhof verwittern die Grabsteine. Seit 2007 ist die Kirche aus dem zehnten Jahrhundert Kulturdenkmal. Wir hören denn auch keine Kirchenlieder, sondern Schuberts „Lindenbaum“ und ein Liebeslied von Johannes Brahms.
Auch im anatolischen Hochland müssen wir immer wieder die Bahn mit dem Bus tauschen, um zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten zu gelangen. Zum Berg Nemrut etwa, dem Nemrut Dagi, wo Antiochus I. von Kommagene seinen Herrschaftsanspruch untermauerte, indem er sich in eine Reihe mit den Göttern stellte. Heute sind die monumentalen Figuren kopflos, Erdbeben haben ihnen zugesetzt. Ismail, unser türkischer Führer, würde an dieser Stelle am liebsten Repliken sehen, um die Originale auch für die Zukunft zu bewahren. Wir sind unter uns hier zwischen Himmel und Erde, wo die verfallenden Statuen die Wahrheit des Zitats vom vergänglichen Ruhm der Welt untermauern und der Blick über das sagenumwobene Euphrat-Tal bis hin nach Mesopotamien schweift. Dahin, wo der IS seine Schreckensherrschaft errichtet.
Ein Glas Wein vertreibt die trüben Gedanken. Und als der Bus dann noch die Schotterstraße einschlägt, die sich malerisch durch die Bergschluchten schlängelt, scheint die Welt wieder in Ordnung – bis wir von einem Erdhaufen gestoppt werden, den zwei Bagger gerade aufschütten. Den ganzen Weg wieder zurück? In Deutschland wäre das vielleicht die einzige Lösung. Nicht aber hier am Ende der Welt. Kurzerhand wird der frisch aufgeschüttete Erdhaufen wieder abgetragen und wir haben freie Fahrt bis nach Arsamaia. Das beeindruckende Dexiosis-Relief, auf dem Antiochus dem Herakles die Hand reicht, die Begräbnistumuli der Kommagene-Herrscher, die Cendere Brücke, von Kaiser Septimus Severus im 2. Jahrhundert n. Ch. errichtet – die Geschichte hat viele Spuren hinterlassen in dieser Ecke Ostanatoliens und doch sind kaum Touristen unterwegs und wir können uns fast als Entdecker fühlen.
Erst in Kappadokien holt uns die Wirklichkeit wieder ein – und der globale Tourismus. Im Freilichtmuseum von Göreme, wo die bizarren Tuffsteinformationen in schwefelgelb, safranrot oder salzweiß an eine Märchenwelt erinnern, treten sich die Touristen aus aller Welt gegenseitig auf die Füße. Unter den Feenkaminen genannten Türmen mit ihren Fensterlöchern herrscht ein babylonisches Sprachengewirr und in den Felsenkirchen mit den oft naiven Fresken drangvolle Enge. Liebenswert merkwürdige Gestalten sind da an die Wände gemalt: Ein Heiliger mit Bart und weiblichen Brüsten (Conchita Wurst lässt grüßen), ein Esel mit dem Hals eines Kamels, ein Jesus mit dem Bizeps eines Arnold Schwarzenegger. Hier könnte man lange verweilen und wie auf Wimmelbildern immer Neues entdecken.
Aber die Zeit drängt. Es gibt noch mehr zu sehen: Das Tal der Mönche, wo schlanke Felssäulen emporragen, die mit ihren Lavahüten an Phalli erinnern. Oder auch die unterirdische Stadt Derinkuju, wo einst Menschen bis zu acht Stockwerke unter der Erde lebten. Vier davon sind heute zugänglich, aber wer klaustrophobisch veranlagt ist, sollte lieber draußen bleiben. Es ist eng und stickig in den Stollen, vor uns verstopfen Tschechen den Weg, hinter uns drängen Chinesen. Wie mussten sich erst die 10 000 Menschen gefühlt haben, die hier unten ihren Alltag lebten, während über ihnen kriegerische Horden wüteten?
Und dann muss es doch noch ein Teppichladen sein. Nein, kein normaler Laden, eine international bekannte Teppichmanufaktur. Auch Angela Merkel war schon hier, lesen wir im Gästebuch. Der eloquente Besitzer überzeugt so manchen Mitfahrer, doch noch ein Souvenir mit nach Hause zu nehmen. Auch ich werde schwach angesichts der traumhaften Farben und der Überredungskünste der Verkäufer. Ein junger Mann mit Zopf entpuppt sich als Augsburger: Oguz Mayadag wurde 1970 im Josefinum geboren und ging mit 20 zurück in die Türkei. Ob er seither mal wieder in Augsburg war? Oguz nickt. „Augsburg ist und bleibt meine Heimatstadt, auch wenn ich hier lebe“, sagt er und erzählt von seiner Zeit an der Fachoberschule. So klein ist die Welt.
Im Höhlenrestaurant am Abend liest Ismail ein Märchen vor, ein Bauchtänzerin tritt auf, eine Folkloregruppe, die Tische biegen sich unter der Auswahl an Vorspeisen. Noch eine Nachtfahrt und wir sind am Ziel: Istanbul.
In der ausufernden türkischen Metropole gibt es keinen Bahnhof mehr für den Zug, seit Haydarpascha geschlossen ist, jener Kopfbahnhof auf der asiatischen Seite des Bosporus, der 1906 nach Plänen deutscher Architekten als Ausgangspunkt der Bagdadbahn gebaut worden war. Die Pläne, diesen geschichtsträchtigen Bahnhof, der 2010 von einem Brand in Mitleidenschaft gezogen wurde, in ein Hotel zu verwandeln, stoßen in Istanbul bis heute auf erbitterten Widerstand. Für die Bagdadbahn jedenfalls ist hier nicht mehr Endstation.
Stattdessen hält der Zug im Bahnhof von Gebze, weit weg vom Herzen der 15-Millionen-Metropole. Die Annäherung mit dem Bus ist wegen des chaotischen Verkehrs langwierig und alles andere als anregend. Die Zufahrtsstraße führt durch endlose Industrieviertel und zeigt das boomende Istanbul aus einem ganz anderen Blickwinkel – umstanden von Wolkenkratzern. Mitten im vierspurigen Stau verkauft ein Mann Sesamkringel, zwei andre wollen Schuhbändel an die Autofahrer bringen, ein alter Mann bettelt. Zwischendurch sieht man Polizisten am Straßenrand, die sich allerdings mehr mit ihrem Handy als mit dem drohenden Verkehrsinfarkt beschäftigen.
Zum Abschied dann doch noch ein versöhnlicher Blick auf die traditionelle Stadt mit Hagia Sophia und Topkapi Palast, ein Abschiedsessen im immer noch malerischen Viertel Sultanahmed. Dann ist auch diese eindrucksvolle Reise auf geschichtsträchtigen Schienen zu Ende.
27Okt. 2014