Dubrovnik: Touristen und Invasoren

„Entweder es schüttet oder es scheint die Sonne“, sagt Niko Vicelja und lächelnd fast entschuldigend. Denn heute schüttet es in Dubrovnik, Kroatiens südlichster Stadt. Den Regenschirm aufzuspannen hilft bei dem stürmischen Wetter auch nichts. Also am besten sprinten – von einer Sehenswürdigkeit zur anderen. Das ist nicht allzu schwer in der zauberhaften Altstadt, wo alles nah beieinander liegt und nach offiziellen Angaben gerade mal 1100 Menschen leben.
„Wenn Sie jemanden rennen sehen, ist das bestimmt ein Besucher – oder es brennt“, hatte Niko vor dem ersten Regenguss gesagt. Wir sehen viele rennen und rennen mit. Die meisten sind Touristen, denn in Dubrovnik „dreht sich alles um den Tourismus“. Und das ist auch gut so, meint Niko, der als Stadtführer sein Geld verdient. Der 35-jährige mit dem verschmitzten Lächeln hat eine deutsche Mutter und ist mit einer Deutschen verheiratet. Deutsche Touristen sind auch seine besten Kunden. Ihnen kann er viel erzählen. 

Aus der alten Zeit der Dubrovacka Republika (Ragusa), dem „goldenen Zeitalter“ der Stadt, als Dubrovnik die größte Seehandelsflotte der Welt befehligte, als Kunst und Wissenschaft florierten und die Adligen allmonatlich einen neuen Fürsten kürten. Der verwahrte die Schlüssel zu den Stadttoren, die nachts immer geschlossen blieben – auch um Eindringlinge abzuhalten. Heute stehen die Tore 24 Stunden offen. Denn die Invasion der Touristen ist Dubrovnik höchst willkommen. Im 14. und 15. Jahrhundert aber wollte sich die Stadt gegen mögliche Feinde absichern. Geniale Baumeister schufen damals eine der schönsten Befestigungsanlagen. Auch mithilfe von Besuchern. Denn jeder, der in die Stadt wollte, erzählt Niko, musste einen Stein mitbringen. Wäre das heute immer noch so, Dubrovnik würde unter einem Berg von Steinen ersticken. Allein schon die Kreuzfahrtschiffe – bis zu zwölf täglich – sorgen für einen schier unendlichen Zustrom. Jeden Freitag, so Niko, bringt die Divina bis zu 4000 Kreuzfahrer, die mit ihren Führern die Stadt überrennen. „Hauptangriffszeit ist zwischen 10 und 16 Uhr“, sagt unser Führer. Dann sei kein Durchkommen mehr auf den Straßen von Dubrovnik. Heute scheint eine Ausnahme zu sein. Es gießt in Strömen und soviel Wasser von oben hält offensichtlich viele Schiffsreisende vom Landgang ab. 
So haben wir die Sehenswürdigkeiten fast für uns allein: Das Franziskanerkloster aus dem 14. Jahrhundert mit dem romanisch-gotischen Kreuzgang und den seltsamen Kapitellen. Niko zeigt auf Tier- und Menschenköpfe. Der Steinmetzmeister, erzählt er, habe die Gesichter der Stadt auf den Säulenkapitellen verewigt, darunter auch sich selbst – mit dicker Backe. Tatsächlich entdecken wir ihn. Den Armen muss arges Zahnweh geplagt haben. Vielleicht hätte er nur auf den „Wunsch- Wasserspeier“ vor dem Kloster steigen müssen – und wäre geheilt gewesen. Oder er hätte in der Klosterapotheke ein Mittelchen gegen Zahnschmerzen kaufen sollen. Dubrovnik hatte nicht nur die älteste Apotheke Europas, es gab auch ein staatliches Krankenhaus, öffentlich bezahlte Ärzte und eine „Babyklappe“. In einer engen Gasse gegenüber dem Klosterkomplex deutet Niko auf eine Wand mit seltsamen Zeichen. Hier in einem Hohlraum in der Mauer konnten arme Mädchen, die unfreiwillig schwanger wurden, ihr Kind ablegen. Bis zum sechsten Lebensjahr wurden die Kleinen von Nonnen großgezogen. Dann mussten sie für ihren Lebensunterhalt arbeiten.
Es blitzt, der nächste Regenguss wird von einem Donnerschlag begleitet. Wir hasten weiter zum Rektorenpalast – ins Trockene. Hier unternimmt Niko mit uns einen Ausflug in die komplexe Geschichte Dubrovniks. Mal unterstellte sich die Stadtrepublik dem Dogenstaat, mal der Stephanskrone, und auch mit dem Osmanischen Reich wurde man handelseinig. Mit jährlich 42 Kilogramm Gold – 12 500 Golddukaten Schutzgeld – erkaufte sich Ragusa die Freiheit der Meere und das Monopol für den Salzhandel. Durch geschickte Schaukel-Diplomatie konnte sich Dubrovnik 450 Jahre lang in Selbstständigkeit sonnen. Der Niedergang begann mit einem Paukenschlag: Ein verheerendes Erdbeben 1667 zerstörte weite Teile der Stadt, das konnte auch der Schutzheilige Blasius nicht verhindern. Über 5000 Einwohner kamen ums Leben. Von der Katastrophe hat sich die Stadt nicht wieder erholt. Napoleon beendete schließlich die Selbstständigkeit. Ragusa kam unter die Herrschaft der Habsburger. 
Auch die Zeit unter Tito, als Dubrovnik Teil des Vielvölkerstaats Jugoslawien war, ist inzwischen Geschichte. Nicht so die Wunden, die der blutige Bürgerkrieg auch in Dubrovnik schlug. Fast ein Jahr lang wurde die befestigte Stadt zwischen Oktober 1991 bis Sommer 1992 von den Serben belagert, und erstmals dienten die hohen Stadtmauern wirklich dem Schutz der Bewohner. Die Angriffe kamen von überall, hat Niko von seinen Eltern erfahren: Vom Wasser aus, aus der Luft und vom Berg Srd, auf den heute eine Seilbahn hinauffährt, weil der Blick von dort oben auf die Stadt so fantastisch ist. Im Unabhängigkeitskrieg saßen die serbischen Soldaten dort oben und feuerten Granaten auf die belagerte Stadt, deren Bewohner im Bombenhagel ohne Wasser und Strom ausharrten. Niko hat das alles nicht miterlebt. Er war in der Zeit in Deutschland. „Über ein halbes Jahr hatte ich kein Lebenszeichen von meiner Familie“, erinnert er sich und schaudert heute noch bei dem Gedanken, was ihr hätte passieren können. 350 Tote hatte die Stadt zu beklagen, viele der Häuser waren zerstört, allein 500 Granaten waren ins Franziskanerkloster eingeschlagen. Spuren davon sind bis heute zu sehen.
Beim Wiederaufbau half auch die Uno, die Unesco erklärte Dubrovnik zum Welterbe. Und die Touristen kommen in Scharen. Doch immer weniger Menschen können sich eine Wohnung in der Altstadt leisten. Die Immobilienpreise sind explodiert. Und bei Durchschnittslöhnen von umgerechnet 600 Euro ist eine Wohnung im Zentrum unerschwinglich. Hinzu kommt, dass in der autofreien Stadt alles per Hand- oder Elektrokarren transportiert werden muss. „Da zahlt man für den Alltagsbedarf leicht zwei bis dreimal mehr als außerhalb“, gibt Niko zu bedenken. Viele Häuser stünden deshalb leer. Oder wurden aufgekauft – von „russischen Immobilienhaien“ oder von Engländern, die hier ihre Ferienwohnungen einrichteten. 
Es ist Abend geworden in Dubrovnik. Das Licht der Laternen spiegelt sich in den Wasserlachen auf der Straße. Alles wirkt wie verzaubert. Der Regen hat aufgehört. Morgen wird wieder die Sonne scheinen in Dubrovnik wie an 250 Tagen im Jahr. Dann werden wir die Stadtmauer erklimmen. Und wenn wir über das rote Dächermeer und die Türme blicken, werden wir uns an die Geschichten erinnern, die Niko erzählt hat. 

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