Zum Leben bekehrt

Sie richtet über etwas, „das mit Liebe begonnen und mit Hass geendet hat“. Fiona Maye ist eine angesehene Richterin am High Court in London. Seit über 30 Jahren ist sie mit Jack, einem Geschichtsprofessor verheiratet. Die Ehe ist kinderlos, aber harmonisch – das wenigstens glaubt Fiona bis zu jenem Tag, an dem Jack ihr eröffnet, dass er mit ihrer Erlaubnis eine Affäre mit einer viel jüngeren Frau eingehen will.
Fiona ist schockiert – und gekränkt. Sie, deren Urteile in Familienangelegenheiten von allen respektiert werden, hat im eigenen Leben versagt. Hätte sie Kinder, wäre vielleicht alles anders. Aber für eigene Kinder war nie der richtige Zeitpunkt und irgendwann war es zu spät. Ausgerechnet in dieser Krisensituation soll die Richterin eine lebenswichtige Entscheidung treffen: Ein 17-jähriger an Leukämie erkrankter Junge (gerade noch nicht volljährig) bräuchte eine Bluttransfusion, um überleben zu können. Aber die Eltern sind überzeugte Zeugen Jehovas und lehnen die Transfusion aus Glaubensgründen ab, und der der Junge, Adam, akzeptiert diese Entscheidung.
Fiona hat nur wenig Zeit für ihr Urteil. Sie besucht Adam im Krankenhaus, um sich selbst ein Bild zu machen. Dabei kommt sie dem Jungen näher als sie es eigentlich wollte, ja sie singt sogar ein Lied, das er, der Anfänger, rührend auf der Geige begleitet. Spätestens da ist Fiona überzeugt davon, dass sie Adam zum Leben bekehren muss. Ihre Entscheidung begründet sie mit dem Kindeswohl. Dass sie den Jungen damit seinen Eltern und deren Religion entfremdet, nimmt sie in Kauf, ohne sich über mögliche Folgen Gedanken zu machen. Die stürzen die sonst so abgeklärte Richterin in einen Strudel der Gefühle und moralischen Konflikte. Der überlebende Adam will ihre Unterstützung für sein neues Leben, mehr noch, er will ihre Zuneigung. Zu viel für die Frau, die nach der Rückkehr ihres Mannes mit ihren Gefühlen hadert und in ihren Fällen immer mehr Parallelen zum eigenen Leben erkennt. „Mit Fakten ließ sich dieser Eindruck zwar nicht erhärten, aber im Spätsommer 2012 schienen ihr die Krisen und Zerwürfnisse zwischen Ehe- und anderen Paaren in Großbritannien anzuschwellen wie eine unberechenbare Springflut, die ganze Familien fortschwemmte, Besitztümer und hoffnungsvolle Träume auseinanderriss und jeden hinwegspülte, der keinen Überlebensinstinkt besaß.“
Ian McEwan verschränkt in seinem neuen meisterhaften Roman „Kindeswohl“ Beruf und Privatleben, zeigt, wie sie sich gegenseitig beeinflussen, beschreibt, wie auch die kühle Richterin aus der Schwäche der eigenen privaten Niederlage heraus von Emotionen überwältigt wird. Adam, der blasse Junge, der sie mit seiner Geige bezaubert hat, wäre der Sohn, den sie gerne gehabt hätte. Mit ihrer Abweisung rettet sie sich in die Konvention, die ihr Leben bestimmt hat. Mit den Konsequenzen wird sie leben müssen. „Kindeswohl“ konfrontiert die Leser mit den brüchigen Fundamenten von Familien, aber auch mit Fragen der Moral und des Gewissens. Und der Autor tut das so formvollendet, dass man das Buch am Ende nur ungern aus der Hand legt.
Info: Ian McEwan, Kindeswohl, Diogenes, 223 S., 19,90 Euro

 

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