„Wandern macht süchtig“

Bild: privat

Philipp Fuge hat Germanistik, Geschichte und Medizin studiert. Der 39-Jährige arbeitet als Arzt in Berlin und ist ein begeisterter Wanderer. 2019 ist er von Gibraltar ans Nordkap gelaufen. Darüber hat er ein Buch geschrieben: „Der Weg ist mein Zuhause“.  Ich habe  mit dem Weitwanderer über seine Motivation und seine Erlebnisse gesprochen.

Du bist ja schon einmal von Berlin zum Nordkap gelaufen. Wie bist du auf die Idee gekommen?
Philipp Fuge. Schon seit vielen Jahren mache ich in meinen Ferien mehrwöchige Touren, vor allem in Skandinavien. Hinterher habe ich mich jedes Mal gefragt: Wie wäre das, wenn du noch monatelang weiterlaufen könntest? Und irgendwann dachte ich: Hey, wenn du das wirklich willst, dann mach’s! Viel zu oft zögern wir zu lange, und dann ist der Zug abgefahren.

Soweit die Füße tragen.                                                                                            Bild: Philipp Fuge

Was reizt dich am Weitwandern?
Philipp Fuge. Raus zu sein aus den Routinen des Alltags. Das sesshafte Leben, das ich sonst führe, eine Zeit lang von außen betrachten zu können und dadurch neu zu mir selbst zu finden. Dabei hilft mir der enge Bezug zur Natur, der zwangsläufig entsteht, wenn man rund um die Uhr draußen ist, und das Reduziertsein auf das Wesentliche: Ich brauche nicht mehr, als ich selbst tragen kann und lebe voll und ganz im Augenblick. Es geht um nichts weiter als darum, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Du hast ja als Arzt einen anstrengenden Beruf. Sehnst du dich da nicht manchmal nach Erholung? Einem Strandurlaub? Purem Nichtstun?
Philipp Fuge. Wandern ist für mich Erholung. Wenn ich im Urlaub rumsitzen muss, werde ich nervös. Stress baue ich am besten ab, wenn ich mich körperlich anstrenge: Radeln, Joggen, Klettern, Skifahren oder eben Wandern.

Allein mit der Natur.                                                                                                     Bild: Philipp Fuge

Der Weg ist nicht nur dein Zuhause, wie dein letztes Buch heißt. Er führt ja auch zu dir selbst. Du bist die meiste Zeit mit dir und der Natur allein. Ist das nicht anstrengend?
Philipp Fuge. Ja, manchmal ist das auch anstrengend, aber zugleich bedeutet es eine große Freiheit. Niemand bestimmt über mich und auch ich muss über niemanden bestimmen. Ich bin ganz allein für mich verantwortlich, kann mich an niemanden anlehnen und niemandem die Schuld in die Schuhe schieben. Wenn’s schief läuft, dann war ich das und wenn‘s gut läuft auch. Ich muss allein auf meine eigene Kraft und Entscheidungsfähigkeit vertrauen. Das ist eine gute Übung, um sich selbst besser kennen und lieben zu lernen – mit allem, was dazu gehört, auch den Schwächen und Ängsten.

„Wie ein Kind, das zum
ersten Mal die Welt entdeckt“

Die Erfahrung der Langsamkeit, auch der Monotonie ist in unserer Gesellschaft eher selten. Wir lenken uns gern ab, sind immer erreichbar und gönnen uns kaum Momente, in denen wir offline sind. Ist dein Weitwandern auch so etwas wie Flucht aus der gegenwärtigen Reiz-Überflutung?
Philipp Fuge. Ja, auf jeden Fall! Auch das ist ein Grund, warum ich manchmal gern allein unterwegs bin und das Handy oft nur zum Fotografieren nutze. Ich will keine Ablenkung von außen, ich will nur das sehen, was gerade da ist. Wenn man ganz und gar im Augenblick lebt und alles andere ausblendet, nimmt man die Umgebung viel intensiver wahr. Man lernt zu staunen und sich über alle möglichen Dinge zu freuen, die einem sonst vielleicht gar nicht aufgefallen wären. Ich fühle mich dann immer ein bisschen wie ein Kind, das zum ersten Mal die Welt entdeckt.

Landschaft mit Rucksack.                                                                                         Bild: Philipp Fuge

Was war dein schlimmstes Erlebnis auf diesem Weg?
Philipp Fuge. Einmal kamen nachts in Spanien plötzlich ein paar aggressiv grölende, betrunkene Typen an meinem Schlafplatz vorbei. Da habe ich Blut und Wasser geschwitzt. Ich hatte wirklich Angst, dass die mich anpöbeln und zusammenschlagen. Aber obwohl sie fast über mich gestolpert wären, haben sie mich nicht gesehen, und ich konnte mich aus dem Staub machen. Das war ein riesiges Glück.

Das schönste?
Philipp Fuge. An einem warmen Sommerabend mitten in Schweden. Mein Zelt stand auf einem Berg mit 360°-Fjällpanorama. Natürlich konnte ich nicht wirklich so weit gucken, doch vor meinem inneren Auge hatte ich das Gefühl, die gesamte Strecke überblicken zu können – von der Straße von Gibraltar bis ans Nordkap. Die Sonne ging unter und Rentiere kamen ganz nahe an meinen Schlafplatz. Ihre Geweihe zeichneten sich wie schwarze Scherenschnitte vor einem orangenen Streifen Abendrot ab, der über den Bergen hing. Das war kurz bevor ich die 5000 Kilometer geknackt habe. Damals war ich mir zum allerersten Mal ganz sicher, dass ich es allen Ernstes schaffen würde, Europa zu Fuß zu durchqueren. Lange Zeit hatte ich das selbst nicht für möglich gehalten und bin einfach trotzdem immer weitergelaufen.

Verdiente Rast.                                                                                                                 Bild: Philipp Fuge

Das traurigste?
Philipp Fuge. Als ich in Südfrankreich plötzlich die Nachricht vom unerwarteten Tod meines Schwiegervaters bekam. Ich habe die Tour für einige Tage unterbrochen, um zur Beerdigung zu fahren. Hinterher zurück auf dem Weg war ich eine ganze Weile ziemlich hin und her gerissen und wusste nicht, ob es richtig ist weiterzugehen. Doch mein Mann hat immer wieder betont, dass er klarkomme und mich darin bestärkt, mein Projekt fortzusetzen. Dafür bin ich ihm wahnsinnig dankbar.

Das kurioseste?
Philipp Fuge. Am 4. Mai fiel auf dem Rothaargebirge plötzlich nochmal Schnee, und als ich morgens aufgewacht bin, war alles weiß. Ich bin runter ins Tal und da wehte in einem Vorgarten eine norwegische Fahne. Weil ich wetterbedingt total in Nordkap-Stimmung war, habe ich ein Foto gemacht und es in meinem Blog gepostet. Kurz darauf treffe ich vorm Supermarkt Leute, die sich für meine Wanderung interessieren. Ich gebe ihnen den Link und ein paar Tage später schreibt mir jemand eine Mail: er sei der Sohn von den Leuten mit der Norwegenfahne, die über ihre Nachbarn – das waren die vor Supermarkt – auf mich aufmerksam geworden seien. Er lebe in Norwegen nicht weit von meiner Strecke. Ich sei herzlich eingeladen vorbeizukommen. Das habe ich dann tatsächlich gemacht, zwei Monate später. Es war ein wunderschöner Abend auf einem Bergbauernhof wie im Bilderbuch, mit super leckerem norwegischem Essen, Plaudereien am Kaminfeuer und Kontakt zu Land und Leuten.

„Ich war überwältigt, wie schnell
aus Fremden Freunde werden können“

Du hast unterwegs viele interessante und freundliche Menschen getroffen. Wer wird dir besonders in Erinnerung bleiben?
Philipp Fuge. Es gibt unterwegs viele flüchtige Bekanntschaften, die jedoch für den Augenblick sehr intensiv sind. Denn wenn man monatelang allein unterwegs ist, dann öffnet man sich im Gespräch ganz anders als im hektischen, schnelllebigen Alltag. Ich war immer wieder überwältigt, wie hilfsbereit mir andere Menschen begegnen und wie schnell aus Fremden Freunde werden können, oft natürlich nur für einen Abend oder ein paar Tage, aber manche Kontakte halten länger. Und insbesondere einen neuen, sehr guten Freund habe ich gefunden, der mich nördlich von Hannover ein Stück begleitet hat und mit dem ich inzwischen schon mehrmals zusammen wandern war.

Übernachtung mit Aussicht.                                                                                            Bild: Philipp Fuge

Du wolltest mit deiner Wanderung auch ein Zeichen gegen den Klimawandel setzen, indem du für Bäume im Senegal gesammelt hast. Wie erfolgreich warst du damit?
Philipp Fuge. Meine Idee war: 1km = 1 Euro = 1 Baum. Also 6575 Bäume. Tatsächlich sind sogar knapp 7000 Bäume zusammengekommen. Diese hohe Spendenbereitschaft war ungeheuer motivierend, so als stünden all die großzügigen Menschen tatsächlich am Wegesrand, um mich anzufeuern.

Wie sicher bist du, dass die Gelder auch an der richtigen Stelle ankommen? Auch Baumpflanzaktionen sind ja inzwischen in die Kritik geraten.
Philipp Fuge. Die Spendengelder sind direkt und ohne Abzüge an die Naturfreunde im Senegal geflossen. Ich habe mich für diese eher kleinere Naturschutzorganisation entschieden, weil ich einigen dort arbeitenden Menschen auch freundschaftlich verbunden bin. So konnte ich darauf vertrauen, dass das Geld ausschließlich für den vorgesehenen Zweck verwendet wird und dass die Bäume unter guten Bedingungen und an geeigneten Standorten heranwachsen werden.

Du hast auf deiner Wanderung sieben europäische Länder durchquert – ohne Grenzkontrollen. Das hat sich mit Corona verändert. Glaubst du, dass das grenzenlose Europa trotzdem Zukunft hat?
Philipp Fuge. Das hoffe ich sehr, aber ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich froh und dankbar bin, 2019 so lange unterwegs gewesen zu sein. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass meine Wanderung nur ein Jahr später nicht mehr möglich gewesen wäre, ich hätte ihm nicht geglaubt. Und mal wieder ist mir klar geworden, dass ich allzu oft Dinge für selbstverständlich halte, die es einfach nicht sind.

Am Ziel.                                                                                                                         Bild: Philipp Fuge

Es wird sicher Menschen geben, die nachmachen wollen, was du vorgemacht hast. Welche Tipps hast du für sie?
Philipp Fuge. Das eigene Ding drehen und sich keinen Druck machen, indem man sich mit anderen vergleicht. Jeder macht so eine Tour auf seine Weise und im eigenen Tempo. Klar, Planung muss sein, aber die eigentliche Tour entsteht erst beim Gehen. Wer zu konkrete Erwartungen hat, kann leicht enttäuscht werden.
Ich glaube, man sollte versuchen, möglichst jeden Augenblick wertzuschätzen, ganz gleich, was er mit sich bringt, auch dann noch, wenn man entsetzlich friert und es seit Tagen stürmt und regnet. Der Weg ist das Ziel, jeder Meter ist wichtig und jeder Schritt bringt dich weiter.

„Die Landschaft sieht nicht immer
nach Fototapete aus“

Eine Langstreckenwanderung macht nicht rund um die Uhr Spaß, die Landschaft sieht nicht immer nach Fototapete aus und du fühlst dich nicht permanent wie eins der strahlenden, durchtrainierten Models im Outdoorkatalog. Manchmal läufst du an Schnellstraßen entlang oder durch hässliche Gewerbegebiete, dein Magen knurrt, du hast Kopfschmerzen, tagelang nicht geduscht oder du musst tierisch aufs Klo, ohne dass eins in Sicht wäre.
Eine positive innere Einstellung ist sehr wesentlich und manchmal musst du über dich selbst lachen können. Du musst dich aushalten lernen, mit all deinen Schwächen, Ängsten und Unsicherheiten. Die Tour ist, was du daraus machst. Es ist deine Tour und sie wäre langweilig und unvollständig ohne Durststrecken, Paniksituationen und Selbstzweifel. Es wird Momente geben, in denen du dich entsetzlich klein und elend fühlst. Ich glaube, es ist wichtig, dies zu akzeptieren, loszulassen und am Ende zu erkennen, wie erlösend es ist, die eigene Fassade fallen zu lassen und endlich zu sein, wer man ist. Das ist es, was man lernen kann auf so einer Wanderung und für das Leben danach.

Nicht immer Fototapete.                                                                                                 Bild: Philipp Fuge

Zur Zeit ist unser Bewegungsradius ja eher eingeschränkt. Denkst du trotzdem daran, mal wieder aufzubrechen? Wenn ja, was sind deine Pläne?
Philipp Fuge. Oh ja, Wandern macht süchtig und ich will unbedingt bald wieder los. Ich denke 2022 werden viele Leute ihre Reisen nachholen und es dürfte ziemlich voll werden, auch auf den Wanderwegen. Deshalb peile ich im Moment das Frühjahr 2023 an. Vielleicht Europa von West nach Ost. Oder tatsächlich mal nach Santiago. Oder es zieht mich wieder nach Skandinavien. Mal schauen…

Info.  Das Buch von Philipp Fuge „Der Weg ist mein Zuhause“ ist bei Knesebeck Stories erschienen und kostet 18 Euro:  https://www.lilo-liest.de/zu-fuss-von-gibraltar-zum-nordkap/
Mehr über Philipp Fuge unter https://www.gibraltar-nordkap.com/

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