Viehscheid: Abschied von der Sommerfrische

Früh um vier, wenn die meisten noch selig schlafen, herrscht auf der Alpe Grasgehren schon Hochbetrieb. Heute ist der große Tag: Kühe und Hirten nehmen Abschied von der Sommerfrische – mit einem großen Fest. Für das Allgäuer Örtchen Obermaiselstein ist der Viehscheid eine Art eintägiges Oktoberfest. Zehntausende Schaulustige wollen die Prozessionen der Kühe und Jungrinder sehen, die von ihren Hirten zu Tal getrieben werden.  

Thomas Natterer hat die Nacht durchgemacht. Der 54-jährige Hirte ist ein alter Hase. Dies ist sein 34. Viehscheid. Und wieder einmal hat alles geklappt wie am Schnürchen: Der Stall ist sauber ausgemistet, die frisch geputzten Schellen glänzen im Schein der Stalllampe, die Hilfshirten sehen proper aus im „Sonntagshäs“ – weißes Hemd, Krachlederne, bestickte Hosenträger, dazu ein Hut mit kecker Birkhuhnfeder oder Blumenschmuck. Der Thomas lächelt zufrieden in seinen Wallebart. 
Bis jetzt hat er Glück gehabt in diesem Sommer. Keines der 145 Jungrinder, die ihm zehn Bauern anvertraut hatten, ist verunglückt oder wurde vom Blitz erschlagen. Auch dieses Jahr wird der Hirte deshalb wieder mit einem Kranzrind in Obermaiselstein einziehen. Ausgewählt hat er dafür sein schönstes Tier, ein Allgäuer Braunvieh mit großen dunklen Augen und langen Wimpern. Noch ist es namenlos wie alle Jungrinder. Und zu sehen bekommen wir es auch nicht. Denn die Schönste der Schönen ist schon vorausgefahren.
Der Thomas zuckt entschuldigend mit der Schulter: „Es braucht halt a bissel Zeit, bis sie her‘grichtet ist.“ Und mit dem schweren Kranzschmuck aus Tannenzweigen, Silberdisteln und anderen Bergblumen könne das Rind auch nicht so schnell laufen wie die anderen. Deshalb wird es sich erst auf der Zielgeraden dem Zug anschließen. 
Allmählich wird es unruhig im Stall. Die Hilfshirten lassen den Bierkrug kreisen, die Rinder schnauben ungeduldig. „Die Viecher spüren schon seit Tagen, dass sich was ändert“, erklärt der Thomas und nimmt einen großen Schluck vom Gerstensaft. Sein Junghirte steht mit großen Augen daneben. 14 Jahre ist Markus und dies ist sein erster Viehscheid. 
Den ganzen Sommer über war der Jugendliche mit Thomas auf der Alp. Tagein tagaus. Bei Wind und Wetter. Früh um 6 Uhr ging’s los mit der Arbeit und zu Ende war sie, wenn’s dunkel wurde. Es war ein Sommer ohne Fernseher und ohne PC. Aber der Markus kann sich nichts Schöneres vorstellen. Im nächsten Jahr will er will wieder dabei sein – und später dann vielleicht selbst Hirte werden. „Naturverbunden“ müsse man schon sein, wenn man es auf einer abgeschiedenen Alpe aushalten wolle, sagt der Thomas und nickt seinem Junghirten zu. Er selbst hat drei Kinder groß gezogen, zwei Söhne und eine Tochter. Auch sie sind jetzt hier, um den Vater zu unterstützen.
Draußen verblassen die Sterne, ganz sacht schälen sich die Berge aus der Dämmerung. Drinnen ächzen die Hirten. Es ist harte Arbeit, den Rindern die bis zu 20 Kilogramm schweren Schellen umzuhängen. Markus befestigt zitternd Blumensträußchen als Kopfschmuck an den Ohren. Die Aufregung steigt, der Thomas gibt noch letzte Regieanweisungen. Dann geht’s los: 60 Rinder quellen aus dem Stall wie eine braune, dampfende Flut. Die Schellen scheppern, die Tiere sind wie losgelassen, bespringen einander, bocken und stürmen querfeldein. Die Hilfshirten – cool mit Zigarette im Mund – sind überall, flitzen mal nach vorne, dann wieder nach hinten und schaffen mit ihren Stöcken und viel Gebrüll Ordnung im wilden Haufen. Schließlich marschiert die Herde erstaunlich diszipliniert neun Kilometer auf der Passstraße bergab. 
In einer Kurve stehen die ersten Touristen, die Kameras schussbereit, lachend und klatschend. Die Rindviecher sehen sie nicht, sie sind jetzt ganz aufs Laufen konzentriert, werden immer schneller. Wir haben Mühe, bei dem Tempo mitzuhalten. Zwischendurch büchst mal wieder eines der Tiere aus und muss eingefangen werden. Zu verführerisch ist das fette Gras neben dem Betonband der Straße. Und dann kommt der Tunnel, die Kühe rücken zusammen und stürmen dicht an dicht durch die dunkle Röhre. Das Scheppern der Schellen steigert sich zum Höllenlärm, der jedes Heavy Metal Konzert zum Schlummerlied degradiert. Ein Dröhnen, das bis nach Obermaiselstein zu hören sein muss und die Ankunft der Alpe Grasgehren am Festplatz ankündigt. 
Stolz marschiert der Thomas mit seinem Kranzrind vorneweg. Die Zuschauer stehen Spalier, winken und klatschen. Geschafft! Jetzt kann auch der Hirte ein großes Bier vertragen. 
Der Gerstensaft fließt in Strömen, die Stimmung ist ausgelassen, und womöglich gibt’s im nächsten Jahr im Juni hier ein paar Babys mehr. Gegenüber der Wiese, wo jetzt die Hirten die Rinder „scheiden“, um sie den Besitzern zu übergeben, brät ein Ochs am Spieß. 600 Portionen schneidet Anton Rothärmel aus dem Trumm Vieh und die gehen weg wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln. „In zwei Stunden ist das Geschichte“, sagt der Koch. Noch vor zwei Wochen ist der Ochse hier auf der Wiese herum getollt. Hoffentlich hat er in seinem kurzen Leben wenigstens einen Alpsommer genießen dürfen… 

Info:  Der Viehscheid in Obermaiselstein findet er in diesem Jahr am 22. September statt. Es ist traditionell der letzte Viehscheid im Allgäu und mit 1400 Rindern von zwölf Alpen einer der größten in der Region. Tausende von Schaulustigen säumen die Straßen und feiern auf dem Festplatz, wo sich eine Art Oktoberfest-Feeling breit macht. Am Vortag können Touristen einen Blick hinter die Kulissen des Viehabtriebs werfen: Mit dem heimischen Wanderführer geht es auf die Alpe und man verfolgt dort live die letzten Vorbereitungen, wie das traditionelle Kranzbinden oder das Anlegen der schweren Zugschellen. Die Tour kostet für Gäste aus den Hörnerdörfer (Fischen, Bolsterlang, Obermaiselstein, Balderschwang, Ofterschwang) mit Gästekarte fünf Euro (Erwachsene) und 2,50 Euro (Kinder). Anmeldung unter Telefon 08326/277. Weitere Auskünfte in der Gästeinformation Obermaiselstein, Am Scheid 18, E-Mail: info@obermaiselstein.de, http://www.obermaiselstein.de oder auch unter http://www.allgaeu.info


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