Skifahren in den Dolomiten: Dem Himmel so nah

Der mächtige Sellastock hat die graue Wolkenmütze tief heruntergezogen. Der kalte Wind pustet den Skifahrern eiskalte Schneenadeln ins Gesicht. Nur die wolligen, schottischen Hochlandrinder unterhalb der Friedrich August Hütte halten dem Stürmen stoisch Stand. Wir suchen Schutz in der Wärme der Hütte, während draußen ein Schneeriese zu toben scheint. Ich denke an Langkofel, den diebischen Riesen, der von seinesgleichen zur Strafe in einen Berg verwandelt wurde. An Tagen wie diesem, wenn der Wind den Schnee fast waagrecht vor sich her treibt und eine blasse Sonne  hinter dem Nebelschleier hervorblinzelt, werden solche Geschichten lebendig. Wenn die Wolkenvorhänge aufreißen, haben die bleichen Berge ihren dramatischen Auftritt. Die Dolomiten, jene schroffen, schartigen Felsspitzen, die dem Himmel so nah zu kommen scheinen, haben von jeher die Fantasie der Menschen bewegt.

Auch heute noch, während wir mit Liften und auf Skiern bequem durch die Täler schaukeln, lassen wir uns faszinieren von den Himmel stürmenden Bergnadeln, die der Sage nach dereinst von Zwergen mit Mondlicht umsponnen wurden, damit die Mondprinzessin auf der Erde überleben konnte. Ein ganzer Märchenschatz entstand in diesen Tälern, von wilden Mädchen, Zwergenkönigen und Feen, von Riesen, Drachen und anderen Fabelwesen. Und märchenhaft ist auch die Entstehung dieser bizarren Felsenlandschaft, die sich aus dem Meer emporhob und ihr Wachstum aus den Skeletten winziger Tiere und Korallen nährte. Auch der Langkofel ist kein versteinerter Riese, sondern ein Riff. Vor 200 Millionen Jahre war er womöglich ein Atoll wie die Malediven. Heute also fahren wir auf dem Korallenriff Ski.
Und wie! Nach dem Schneefall des gestrigen Tages sind die Pisten puderweich. Die Ski gleiten durch die weiße Pracht als schnitten sie durch Sahne. Nach der atemberaubenden Gondelfahrt zum Lagazuoi drängen sich bei der Abfahrt die mächtigen Brocken der Cinque Torre vor dem fast unwirklich blauen Himmel ins Blickfeld. Wir gleiten dahin als schwebten wir über die funkelnden Pisten, vor uns ein Panorama, das jeder Fototapete Ehre machen würde.
  Kaum zu glauben, dass in dieser grandiosen Natur der 1. Weltkrieg tiefe Wunden geschlagen hat, dass diese Berge in einem erbarmungslosen Stellungskrieg für Zigtausende zum Grab wurden. Auf dem Lagazuoi kann man auch im Winter die Stollen sehen, in denen die armen Kerle in Eiseskälte ausharrten und jeden Augenblick damit rechnen mussten, von einer Mine zerfetzt, von einer Lawine begraben,   von herabstürzenden Felsbrocken erschlagen oder vom eindringenden Feind erschossen zu werden. Auch der Berg selbst hat gelitten. Sprengungen rissen tiefe Wunden in den Fels. Wer tiefer in die dramatischen Geschehnisse vor 90 Jahren eintauchen möchte, kann das auf der Gebirgsjägertour tun.
Uns aber steht der Sinn nach einer anderen Geschichte, auch sie nur denkbar in den Dolomiten: die   Geschichte der Ladiner. Nur in den lange Zeit von der Außenwelt abgeschnittenen Dolomitentälern hat sich eine Kultur erhalten können, deren Wurzeln tief in die Geschichte des altrömischen Reiches hineinragt. 30000 Dolomitenladiner sprechen noch heute eine Sprache, die auf das Volkslatein zurückgeht. Benuni im Museum Ladin Ciastel de Tor, im ladinischen Museum von St. Martin in Thurn, dem modernsten Museum Südtirols.
Hier in den geschichtsträchtigen Mauern lädt eine multimediale Inszenierung mit Audioguide und Animation zu einer Zeitreise ein, die in der Bronzezeit bei Hüttensiedlungen beginnt und über die Romanisierung der Dolomiten ins Mittelalter und in die Neuzeit führt. Hier auch erfahren wir, woraus sich die Dolomiten-Märchen speisen. Die Vorstellungen und auch Göttinnen des alten Weltbildes blieben bis ins Mittelalter lebendig. Dolasilla, die Herrin über das sagenhafte Reich von Fanes, etwa, Herrscherin über Fruchtbarkeit, Wachstum, Raum und Zeit, Leben und Tod. Im Museum beginnen Bilder zu sprechen, Sagen werfen Schatten, Geschichte wird lebendig. Wie immer erzählt sie von Machthabern und Untertanen, von Unterdrückung und Aufruhr und von wagemutigen Kunsthandwerkern, die sich hinauswagten in die ferne weite Welt, um dem Teufelskreis der Armut in den Dolomitentälern zu entkommen: die Schnitzer von Gröden, die Wandermaler aus dem Fassatal, die Filigrankünstler aus Cortina brachten bei ihrer Rückkehr auch ein Stück von dieser Welt zurück in die engen Täler.
Um 1850 kamen dann die ersten Fremden, englische Alpinisten wanderten über die Berge und in die entlegenen Dörfer. 20 Jahre später brachte die Eisenbahn dann auch  Nobeltouristen zu Höhenluft und Alpenglühen und die Bergbauern mutierten zu Gastgebern und Bergführern. Der Anfang vom Ende der Abgeschiedenheit.
Nicht einmal der Winter hielt die Fremden draußen. 1895 tummeln sich schon Skifahrer auf den Almwiesen um Gröden und Cortina. Die Seiser Alm wird zu einem bedeutenden Skigebiet. 1935 findet ein erster Riesentorlauf auf der Marmolada statt. Kein Lift bringt die Sportler auf den Berg. Bevor sie abfahren wollen, müssen sie erst einmal hoch hinaufsteigen. Als 1956 dann die olympischen Winterspiele in Cortina d’Ampezzo die Dolomiten als Skiregion weltberühmt machen, müssen sich die Skiläufer schon nicht mehr auf ihre eigenen Muskeln verlassen. Aufstiegshilfen nehmen ihnen die Mühe ab. Nur die schon damals launische Frau Holle ziert sich und lässt kaum Schneeflocken rieseln. Um die Spiele zu retten, karren Lastwagen  das kostbare Weiß in unermüdlichem Einsatz heran. Am Eröffnungstag freilich fällt Schnee in rauen Mengen, so dass die Laster ihre Ladung wieder abtransportieren müssen.  
Das alles ist heute leichter – dank der Schneekanonen. Über 90 Prozent der 1200 Pisten im Skikarussell von Dolomiti Superski können beschneit werden. Für die Täler lebenswichtig. „Ohne Kunstschnee hätten wir die letzten Jahre nicht überleben können“,  sagt Jolanda in Gröden. Von der Eisenstraße zur Kunstschneepiste illustriert eine Installation im Museum die fürs Überleben so notwendige Entwicklung. Ich steige die engen Treppen zum Turm hoch und schaue hinunter auf eine Wiese mit Lamas und hinüber auf die Piste nach St. Vigil – ein langes weißes Laken im grünen Bett der Wiesen. Am Himmel ballen sich dicke graue Wolken. Vielleicht hat Frau Holle auch dieses Mal ein Einsehen.   

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