„Im Tourismus gibt es nicht nur eine Wahrheit“

Corona hat auch den Tourismus infiziert. Kaum etwas geht mit Reisen.  Viele Länder haben ihre Grenzen geschlossen.  Es wird weniger geflogen,  die Veranstalter haben auf den Trend reagiert und legen mehr Reisen in Deutschland auf.  Doch was bedeutet das für Mensch und Natur in anderen Regionen dieser Welt?  „Wir können nicht sagen, die ganze Welt ist Risikogebiet“, warnt etwa Entwicklungsminister Gerd Müller.  Den Schaden hätten in erster Linie Entwicklungs- und Schwellenländer, deren Wirtschaft in weit überdurchschnittlichem Maße von Einnahmen aus dem Reiseverkehr abhänge.  Darüber habe ich  mit Martina von Münchhausen gesprochen, die beim WWF für den Tourismus zuständig ist.

Martina von Münchhausen. Bild: Daniel Seiffert/WWF

Frau von Münchhausen, warum braucht es Touristen, um die Natur und die Tiere zu schützen? Es heißt doch immer wieder, der Tourist zerstöre, was er suche, indem er es finde?
Martina von Münchhausen: Hier gibt es nicht nur die eine Wahrheit. Im Sommer 2018 sind rund 80 Millionen Menschen von deutschen Flughäfen in den Urlaub gestartet. Die dadurch entstandenen Treibhausgasemissionen durch Flugreisen sind sehr schlecht fürs Klima. Für touristische Infrastruktur werden weltweit kostbare Lebensräume zerstört. Vielbesuchte Destinationen sind schon lange nicht mehr in der Lage, steigende Touristenzahlen zu bewältigen, immer mehr Plastikmüll verschmutzt unsere Meere. Wasser wird knapp und natürliche Ressourcen werden übernutzt. Viele touristische Aktivitäten sind eine Zumutung und werden sogar zu einer Bedrohung für Natur- und Tierwelt. Alles richtig.
Die Corona Pandemie und der damit einhergehende weltweite Kollaps des internationalen Tourismus zeigen uns aber auch, wie existenziell der Reisesektor für Natur- und Artenschutz und die lokale Bevölkerung ist. Das ist die andere Wahrheit.
Kommen die Touristen nicht, um die Natur zu erleben, ist der Schutz dieser Orte wesentlich schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich. Erfolgreiche Modelle für nachhaltigen Tourismus aus den letzten Jahrzehnten drohen zu zerbrechen.

Auch dieser Leopard überlebt nur dank eines Schutzgebiets in Namibia.

Geben Sie uns doch ein paar Beispiele dafür, wie der Tourismus zur Erhaltung von Schutzgebieten beiträgt.
Von Münchhausen: Naturschutz braucht Naturschutzgebiete. Und diese können nur akzeptiert und erfolgreich sein, wenn sie durch Besucher und Tourismus-Einnahmen finanziert werden können. Das gilt in den Nationalparken Wattenmeer oder Bayerischer Wald genauso wie in den Meeresschutzgebieten rund um Galapagos, vor der Küste Mexikos oder im Krüger Nationalpark Südafrikas.
Schauen wir uns die Meeresschutzgebiete und Korallenriffe an, die durch touristischen Aktivitäten rund 36 Milliarden Dollar weltweit erwirtschaften: An den Küsten Mittelamerikas erstreckt sich das zweitgrößte Korallenriff der Welt. In den unter Schutz gestellten Gebieten des Mesoamerikanischen Riffs werden 50 Prozent des Schutzgebietsmanagements über Tourismus-Einnahmen finanziert. In Belize wurden jetzt mehr als die Hälfte der staatlichen Mitarbeiter, die für den Schutz und das Monitoring und die Gästeführung sorgen, entlassen.
In Dzanga-Sangha im Herzen des Kongobeckens ist das Schutzgebiet bis auf Weiteres für Touristen und Wissenschaftler geschlossen. Flachlandgorillas werden hier vorsichtig über Jahre an die Präsenz des Menschen gewöhnt, auch um Touristen Gorilla-Beobachtungen zu ermöglichen. Die Einnahmen, die sowohl Gemeindevorhaben, die Parkverwaltung sowie das Gorillaprogramm selbst finanzieren, fehlen jetzt.

Mit Gorillabeobachtungen werden auch Gemeinden vor Ort finanziert. Bild: Chloe Cipoletta/WWF

In Namibia finanziert der internationale Tourismus Wildhüter, Nashorn Ranger und das gemeindebasierte Naturschutzprogramm Namibias. Das seit nun fast 30 Jahren bestehende gemeindebasierte Tourismuskonzept ist die wirksamste Form des Naturschutzes. Durch diese Schutzbemühungen konnten sich die Elefanten-und Nashornzahlen in Namibia verdreifachen.
In Nepal, in der Terai Arc Landschaft in der östlichen Himalaya Region, hat der Tourismus in den letzten zehn Jahren dazu geführt, dass ländliche Gemeinden vom Naturschutz profitieren. Die Überwachung der Wildtiere hat zur Stabilität der Tierbestände beigetragen und die Lebensbedingungen der Landbevölkerung verbessert.

Schutzgebiete müssen  sich auch tragen

Im Südlichen Kaukasus befindet sich der Mtirala Nationalpark mit beeindruckenden Berglandschaften, Regenwäldern und einer Vielfalt an endemischen und gefährdeten Tier- und Pflanzenarten. Der Nationalpark ist seit vielen Jahren ein Paradebeispiel für erfolgreichen naturnahen Tourismus für Georgien geworden.
Ich könnte Ihnen noch sehr viele weitere Beispiele schildern. Viele Schutzgebiete werden politisch ihren Status nur halten können, wenn sie auch ökonomisch tragfähig bleiben. Das kann der Tourismus schaffen. Ist das nicht mehr der Fall, werden die wertvollen und bedrohten Ökosysteme und Habitate wieder stärker einer nicht nachhaltigen Nutzung überlassen. Verschwinden sie, haben auch die dort lebenden Wildtiere keine Chance mehr.

Darwin sprach vom „Survival of the Fittest“. Gemeint ist damit das Überleben der am besten an die Verhältnisse angepassten Arten. Reicht es denn nicht, die Natur sich selbst zu überlassen?
Von Münchhausen: Nein, wir Menschen haben mittlerweile die Lebensräume auf unserem Planeten nach unseren Vorstellungen und Bedürfnissen gestaltet. Da gibt es wenig Spielraum für die Natur, sich selbst zu helfen. Seit 1970 verzeichnen wir einen Rückgang von fast 70 Prozent der Wirbeltierbestände. Nur noch vier Prozent der gesamten Masse an Säugetieren sind Wildtiere.
Einige Arten sind besonders betroffen: Dazu zählen die Nahrungsspezialisten wie der große Pandabär oder die sich sehr langsam fortpflanzenden Arten wie Wale und Orang-Utans, große Tierarten, die weitläufige Lebensräume benötigen und viel Futter wie etwa Elefanten oder auch Arten, die nur in einem bestimmten Lebensraum heimisch sind etwa der Sumatra-Tiger. Wollen wir in Kauf nehmen, dass diese Arten alle verschwinden?

Elefanten brauchen weiter Räume um zu überleben.

Das wäre natürlich eine Katastrophe. Wird die durch das Fehlen von Touristen noch weiter befördert? Einfach weil den Menschen in den Entwicklungsländern mit dem Ausbleiben der Touristen die Existenzgrundlage wegzubrechen droht? Kommt es womöglich aus purer Not zu mehr Wilderei?
Von Münchhausen: Da gibt es viele Beispiele: So versorgt die Mara Naboisho Conservancy in Kenia rund 600 Massai Familien. Mit dem Ausbleiben der Touristen stehen sie vor dem Nichts. In der puren Not gerät der Schutzgedanke unweigerlich in den Hintergrund, und Wilderei, illegale Fischerei und Abholzung nehmen zu.
Die Koexistenz mit Wildtieren verläuft schon in Nicht-Krisenzeiten nicht immer harmonisch und konfliktfrei. Das ist überall auf der Welt der Fall. Der Tourismus ist hier Puffer und Ausgleich. Fehlt er und das damit verbundene Subsistenzeinkommen, geraten die Menschen unverschuldet in Not und fangen wieder an zu wildern. Ein Teufelskreis: Wenn die Wildtierzahlen wieder dramatisch einbrechen und natürliche Ressourcen verschwinden, gibt es auch keine Basis mehr für gemeindebasierte und nachhaltige Tourismuskonzepte.

Der Tourismus muss Verantwortung übernehmen

Und wie sieht es für den Tourismus aus? Verliert er in diesen Lockdown-Zeiten den Anspruch auf Nachhaltigkeit?
Von Münchhausen: Das wird sich zeigen. Im Moment sind wir zuversichtlich, dass sich der Tourismus eher mehr hin zu Nachhaltigkeit dreht. Aber gibt es erstmal einen Impfstoff und die Menschen dürfen sich wieder frei bewegen und ins Flugzeug steigen, sind die Natur- und Lebensraumzerstörung, die Verbreitung von Zoonosen und Entstehung von Pandemien schnell wieder vergessen.
Vor Corona sprachen wir immer so lapidar davon, dass Tourismus eine intakte Natur benötigt – als Basis für das touristische Geschäft. Wie sehr dies im wortwörtlichen Sinn der Fall ist, erleben wir jetzt.

Geschützte Natur im Corcovado Nationalpark in Costa Rica

Je stärker der Mensch in die Wälder und Ökosysteme eingreift, desto stärker wächst die Gefahr der Pandemien. Der Tourismus, der von der Pandemie am härtesten betroffene Sektor, ist doch die Branche schlechthin, die sich für mehr Naturschutz, für ein striktes Verbot von illegalem Wildtierhandel, für eine Ausweitung von Schutzgebieten und für eine nachhaltigere Lebensweise einsetzen sollte. Sowohl bei der Gestaltung der Reisen, aber auch mit mehr Einsatz auf politischer Ebene!

Überleben auch da die am besten an die Verhältnisse angepassten Veranstalter? Und wie müssten die ausgerichtet sein?
Martina von Münchhausen: Der Tourismus muss aus dieser Pandemie Lehren ziehen. Der Preis einer Reise darf nicht länger ausschlaggebend sein. Reisen muss verantwortungsvoller werden und für Mensch und Natur gleichermaßen Unterstützung bieten. Nur wenn er auch für die Zielgebiete Verantwortung übernimmt, kann der Tourismus auch weiterhin die so lang ersehnten und auch wichtigen Auszeiten vom Alltag bieten.

Mehr zum Thema: https://youtu.be/7vsxVFukhoY

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