Fall in den Abgrund: Tahar Ben Jellouns Migrantenroman „Verlassen“

Verlassen: Roman
(Buch)
Autor: Tahar BenJelloun
Verlag: Bvt Berliner Taschenbuch Verlag
Erschienen am: 2008-04
Seiten: 264
ISBN: 3833305355

Sie wollen die Heimat verlassen und sind im gelobten Land von allen guten Geistern verlassen: Tahar Ben Jelloun spürt in seinem Roman „Verlassen“ den Schicksalen von Migranten in seiner Heimat Marokko nach und rückt sie mit viel Sinn für Dramaturgie ins Bewusstsein der Leser. Im Mittelpunkt des episodenhaft arrangierten Romans steht der junge Azel, der von einer Zukunft im goldenen Europa träumt, sich von seinem homosexuellen Freund Miguel den Weg dorthin ebnen lässt und diesen auch dazu überredet, eine Scheinehe mit Azels Schwester Kenza einzugehen.Doch damit hat Azel nicht das Glück gefunden, das er sich erträumt hatte. Im Gegenteil. Die Auswanderung ist wie ein Fall in den Abgrund, die Fremde stiehlt ihm seine Identität, seine Würde. Azel kann sich nicht verzeihen, dass er für seinen Traum zur „Hure“ geworden ist. Verzweifelt wehrt er sich gegen die Vereinnahmung durch Miguel und ist doch ohne den großzügigen Freund und seine Beziehungen verloren. Zwar bieten die „Brüder“ dem Gestrandeten und Verzweifelten ihre Hilfe an, aber Azel weiß, was sich dahinter verbirgt. Er fürchtet die Indoktrination durch die Islamisten fast so sehr wie die Entfremdung durch Miguel. Doch auch sein Versuch, anderweitig zu Geld zu kommen, ist zum Scheitern verurteilt.
Azel hat sich selbst entwurzelt, er wird zum Unbehausten, zu einem Menschen auf der Flucht. Den anderen geht es nicht viel besser, auch wenn sie eher willens sind, sich anzupassen, sich im neuen Leben zu arrangieren. Sie suchten das Paradies und fanden sich auf dem harten Boden der Tatsachen wieder. Dort, wo sie unwillkommen waren, Aussätzige: „Ihr wollt also abhauen, auswandern, die Heimat verlassen, zu den Europäern gehen, aber die erwarten euch doch gar nicht, das heißt, die erwarten euch mit Hunden, mit deutschen Schäferhunden, Handschellen und einem Tritt in den Hintern.“ Und dafür wagen Tausende den Schritt ins Ungewisse, den Fall in den Abgrund. Denn das Leben in der Heimat ist oft genug hoffnungslos und wer sich dagegen auflehnt, schwebt in tödlicher Gefahr.
Tahar Ben Jelloun schreibt über die Probleme der Migration, über die wir so gerne diskutieren. Er beschreibt diese Probleme von innen heraus, versucht, Verständnis zu wecken für die Auswanderer, ihre Hoffnungen und ihr Scheitern und er macht die Erfolge der radikalen Islamisten unter den Desillusionierten nachvollziehbar. Ein Roman, der betroffen macht aber auch zornig. Ein Roman, der in seiner Kompromißlosigkeit wichtiger ist als viele der alltäglichen Debatten über Migration und Integration.
Info: Tahar Ben Jelloun, Verlassen, Berlin Verlag, 265 S., 19,90 Euro

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