Erleuchtung auf dem Berg des Erzengels

Dem Erzengel Michael sei Dank. Hätte er im Jahre des Herrn 708 nicht den eigensinnigen Bischof von Avranches nachdrücklich – indem er ihm kurzerhand ein Loch in den Sturschädel schlug – davon überzeugt, auf dem Felseneiland zwischen Normandie und Bretagne eine Kirche zu bauen, gäbe es ihn nicht, den Mont St. Michel, den Berg des heiligen Michael. Und ich wäre nicht hier und hätte die Magie dieses Klosterberges nie gespürt.

Im Gegenlicht wirkt der Mont St. Michel wie ein verwunschenes
Felsenschloss aus dem Märchen, und auch aus der Nähe verliert er nichts
von seiner beeindruckenden Schönheit – trotz der Souvenirshops, die
seine alten Mauern belagern und der Restaurants, die sich
aneinanderreihen wie auf der Plaka in Athen. Ich entscheide mich für die
Tradition und das „Mere Poulard“, wo alles begann.

Annette Poulard,
verheiratet mit dem Sohn eines Pariser Bäckers, hatte hier ihr erstes
Restaurant eröffnet. Ein tellerüberlappendes Omelette, über offenem
Feuer gekocht, wurde ihr Aushängeschild. Bis heute sind die
Ingredienzien ein Geheimnis des Hauses und die Omelettes heiß begehrt.
Die Patronin starb 1931 hochbetagt und hinterließ ein Haus, das sich mit
berühmten Namen schmücken konnte. Im angeschlossenen Hotel verweisen
Bilder auf die bekanntesten Gäste: Trotzky war ebenso hier wie einer der
Rockefellers, Maggie Thatcher und Woody Allen, Hemingway und Paul
Bocuse
. Was der Nouvelle-Cuisine-Papst wohl zu der schaumigen Eierspeise
gesagt hat? Egal, mir schmeckt sie, auch wenn ich gerade mal die Hälfte
schaffe.
Aber ich habe ja noch etwas vor: einen abendlichen Spaziergang auf den
Berg des Erzengels -durch die altehrwürdige Abtei bis ganz nach oben.
Gerade mal 25 Menschen leben derzeit ständig auf dem Mont St. Michel,
der alljährlich von über drei Millionen Besuchern heimgesucht wird.
Höchstens die Hälfte schafft es bis in die Abtei, wo inzwischen wieder
zwölf Klosterinsassen leben – sieben Schwestern und fünf Mönche der
Bruderschaft von Jerusalem“. Getrennt wohnen, gemeinsam beten ist ihre
Devise.
Des Nachts unterm Sternenhimmel, in den der schlanke Turm mit dem
Erzengel an der Spitze ragt wie ein Fingerzeig, ist der Mont St. Michel
besonders eindrucksvoll. Bei den Promenades Nocturnes, den nächtlichen
Wanderungen, zeigt sich der heilige Berg von seiner mystischen Seite.
Magische Musik erklingt. Die Beleuchtung setzt dramatische Akzente, ohne
kitschig zu wirken, hebt da eine – kopflose – Pieta hervor, dort eine
Madonna mit Kind, ebenfalls kopflos, beleuchtet die kunstvollen Kapitele
der schlanken Säulen und malt in der Kuppel mit den zum Himmel
strebenden Spitzbögen flirrende Mosaike.
Die Menschen bewegen sich schweigend durch die gewaltigen Hallen,
Pärchen halten einander an den Händen, Kinder tuscheln, eine alte Frau
stützt ihren Mann. Manche sitzen in Gedanken versunken auf einer Bank,
andere fotografieren mit dem Handy. Treppauf, treppab führt der Weg
durch das Labyrinth des Klosters vorbei an ehemaligen Gefängniszellen
und finsteren Geheimgängen bis zum gewaltigen Kirchenraum. In einer
Halle rinnt der Sand unaufhörlich durchs gigantische Stundenglas. Eine
unsichtbare Uhr schlägt Mitternacht. Zeit, die Abtei zu verlassen.
Die Souvenirläden sind längst verweist, die letzten Restaurants
schließen. Ein paar nächtliche Spaziergänger verlieren sich zwischen den
alten Mauern. Der nächtliche Himmel ist von unzähligen Sternen übersät,
silbrig schimmert das Meer. Kein Wunder, dass der Erzengel genau hier
seine Kirchenfestung bauen ließ – zwischen Himmel und Erde. Wer zum
heiligen Berg kommen wollte, musste übers Meer. Auf dem Damm nähern sich
noch immer die Lichtpunkte der Autos und um den Erzengel auf der
Turmspitze kreisen die Fledermäuse. Vor 24 Jahren war der heilige
Michael wieder auf seinen Stammplatz auf dem Glockenturm zurückgekommen,
frisch restauriert nach einem Blitzschlag und geradewegs vom Himmel her
– mittels eines Hubschraubers. 

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