Die Unglücksinsel: T.C. Boyles „San Miguel“

Ein Stück Land ins Meer geworfen, eine unwirtliche Insel, rau und lebensfeindlich. San Miguel vor der Küste Kaliforniens. Stürme statt Sonne, Schafe statt Menschen, Nebel statt Weitsicht. Hier im Nirgendwo am Ende der bewohnten Welt braucht man Kraft zum Überleben. Kraft, die Marantha nicht hat. Und doch lässt sie sich von ihrem Mann, dem Bürgerkriegsveteranen Will Waters dazu überreden, mit ihm und der Adoptivtochter Edith auf die einsame Insel zu gehen, um ein neues Leben anzufangen. 

Für die Tuberkulosekranke der Anfang vom Ende. Das Haus, das sie erwartet, ist kaum mehr als eine Hütte, schäbig und verdreckt, die Toilette ein Abtritt. Mit Sehnsucht denkt Marantha an dem Komfort ihrer Wohnung in San Francisco, an die Freunde, die Feste. Auf der Insel leisten ihr nur der wortkarge Knecht, der junge Jimmie und die Hausangestellte Ida Gesellschaft. Wind und Wetter setzen ihr zu und Marantha grollt ihrem Mann, der sie auf das gottverlassene Eiland gebracht hat, um seinen Pionier-Traum zu verwirklichen. Sie entzieht sich ihm immer mehr, auch Edith droht ihr zu entgleiten. Aus purer Langeweile lässt sich das Mädchen auf gefährliche Liebesspiele mit dem schwerfälligen Jimmie ein, mal ist er ihr Heathcliff, dann der Caliban aus Shakespeares „Sturm“. Marantha betrachtet das Treiben mit Sorge und merkt dabei nicht, wie ihr Mann sich ihr entfremdet. 
Schließlich wird ihr Leiden so schlimm, dass sich Will widerwillig bereitfindet, zurückzugehen nach Santa Barbara. Marantha atmet auf, Edith besucht ein Mädcheninternat wie es sich gehört. Doch nach dem Tod seiner Frau hält Will nichts mehr in der Stadt, er will zurück auf die Insel und zwingt Edith dazu, ihn zu begleiten. Ida und sein ungeborenes Kind hat er verstoßen. Die bisher verwöhnte Adoptivtochter soll ihre Rolle übernehmen und die Männer versorgen. Grollend fügt sich das Mädchen in die neue, ungewohnte Rolle – nur der Gedanke, bei der ersten Gelegenheit dieser Gefängnisinsel zu entfliehen, hält sie aufrecht. Sie investiert sogar ihre Jungfräulichkeit, um einen tapferen Mann zu finden, der sie mitnimmt übers Meer – vergeblich. Es ist auch kein edler Ritter in goldener Rüstung, der sie schließlich befreit, sondern ein Guano-Sammler, der sie auf seinem mit Vogeldreck beladenen Boot in die Freiheit fährt. Fern der Insel kann Edith das Leben leben, das sie sich erträumt hat. 
Die Insel jedoch scheint den Frauen kein Glück zu bringen. Aber viele Jahre später kommt Elise, frisch verheiratet mit dem charmanten Herbie, einem Weltkriegs-Veteranen. Elise ist tatendurstig, fröhlich und voller Optimismus. Was kann es Schöneres geben, als mit dem Geliebten etwas aufzubauen, allein ohne jede Hilfe. Die beiden richten sich auf San Miguel ein so gut es eben geht. Sie leben ihr Leben fern von dem, was in der Welt geschieht. Der immer gleiche Rhythmus der Tage wird nur unterbrochen durch die Ankunft des Postboots oder die der Schafscherer und manchmal den Besuch des Freundes, der das Insel-Projekt finanziert. Zwei Mädchen machen das Familienglück perfekt, und Elise kann sich bald nicht mehr vorstellen, anderswo zu leben. Die Presse feiert die kleine Familie als Pioniere und für eine kurze Zeit sind Elise und Herbie berühmt. 
Doch der zweite Weltkrieg wirft seine Schatten auch auf die einsame Insel. Und schnell verändert sich die Atmosphäre. Zwei junge Navy-Soldaten werden zum Schutz der Familie abgestellt. Herbie fühlt sich entthront und, nachdem er sich beim Holzhacken schwer verletzt hat, als Krüppel. Der glühende Patriot glaubt, zu nichts mehr nutze zu sein und setzt seinem Leben ein Ende. Er, der sich gern als König von San Miguel sah, will niemandem zur Last fallen. „Le roi est mort“ schreibt er in seinem Abschiedsbrief, der König ist tot. Tot fühlt sich auch Elise, als sie auf der Insel alles zurücklässt, was ihr am Herzen lag. Doch das Leben geht weiter, auch wenn das Glück sie verlassen hat. Sie muss sich um ihre zwei Töchter kümmern. 
T.C. Boyle hat einen Roman über amerikanische Pioniere geschrieben, die aus der Zivilisation in die Wildnis fliehen und vergeblich versuchen der Natur zu trotzen. Es ist ein Roman über drei Frauen, die tatsächlich gelebt haben. Es ist aber vor allem ein Roman über die große Illusion der Männer, jemals ein Paradies auf Erden schaffen zu können. Die Natur, in diesem Fall die Insel, stutzt sie zurecht, macht sie klein. 
Info: T. Coraghessan Boyle, San Miguel, Hanser, 447 S., 22,90 Euro

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