Rafal ist fast neun Jahre alt, und er lebt mit seinem Großvater im Getto von Warschau. Irgendwie kennt er kein anderes Leben, denn das, was vor dem Getto war, hat er vergessen. Dass es einmal eine Zeit gab, in der es keinen Krieg gab und auch keinen „Bezirk“, wie die Einwohner das Getto nennen. Auch an die Zeit mit seinen Eltern, die vor Jahren nach Afrika ausgewandert sind, kann sich Rafal kaum mehr erinnern. Der Großvater ist alles, was er an Familie hat.
Und dann will ausgerechnet dieser Großvater ihn wegschicken. Rafal versteht die Welt nicht mehr. Er ahnt nicht, wie schwer auch dem alten Mann die Trennung von seinem Enkel fällt. Nur, dass sie ihm das Wertvollste wert ist, was er hat, das sieht der Kleine schon. Denn Großvaters Geige, die den beiden den Lebensunterhalt gesichert hat, bleibt bei den Leuten zurück, die Rafal eine Zukunft sichern sollen – bei einer polnischen Familie.
Doch der kleine Jude sieht so gar nicht wie ein Pole aus, deshalb muss er sich die Haare bleichen lassen. Eine schmerzhafte Prozedur, die ihm karottenrote Pumucklhaare beschert. Es soll noch schlimmer kommen: Stella, die nette Fluchthelferin, die den kleinen Bücherwurm ins Herz geschlossen hat, kann ihn nicht wie geplant bei der polnischen Familie unterbringen. Die Nazis haben sie im Visier.
So kriecht Rafal, krank an Leib und Seele, im verwilderten Zoo unter, wo er vergeblich darauf wartet, dass Stella zurückkommt. Die Zeit vertreibt er sich mit Träumen über die „Zeitmaschine“ von H.G. Wells, die er noch im Getto gelesen hat. Und er lernt Emek kennen, der sich im Zoo gut organisiert hat – und Lidka, die Tochter von Nachbarn aus dem „Bezirk“.
Der polnische Autor Marcin Szcygielski beschreibt in dem vielschichtigen Roman „Flügel aus Papier“ ein Kinderleben, wie wir es uns heute nicht mehr vorstellen können. Ein Leben in Hunger und Not, in Angst vor Verfolgung, aber immer noch besser als das Leben im Getto, das Rafal an den großen Käfig erinnert, in dem die Vögel im Zoo herumflattern konnten. Aber er schildert auch, dass Rafal und seine Freunde manchmal sogar Spaß haben, wenn sie ihre kleinen Diebstähle als Abenteuer inszenieren. Oder wenn Emek, der ein bisschen an Huckleberry Finn erinnert, seine Arche baut, mit der die Kinder in die Freiheit entkommen wollen.
Ein ganz besonderes Abenteuer aber hat der fiebernde Rafal da schon erlebt – mit der Zeitmaschine. Aus dem Zoo ist er direkt in die Zukunft gereist, in unsere Zeit, in der ihm alles sehr merkwürdig vorkommt: Die Menschen tragen bunte Unterhosen und Unterhemden mit Bildern drauf. Sie haben Drähte im Ohr und tragen Kästchen auf der Brust. Rafal kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Seine Karottenhaare fallen gar nicht mehr auf. Im Gegenteil, das Mädchen Aska findet sie „krass“. Schon wegen Cola und Hot Dogs könnte Rafal an der neuen Zeit Gefallen finden. Doch dass ein paar Jungs mit einem Brotlaib Fußball spielen, das will ihm, der für ein Stück Brot weite Wege auf sich genommen hätte, nicht in den Kopf.
Nur knapp überlebt der kleine Zeitreisende den Zusammenstoß mit einem der neuartigen Automobile. Wer ihn gerettet hat, erfahren die Leser ganz zum Schluss. Da weiß auch Rafal, dass selbst die Möglichkeiten von Zeitreisen beschränkt sind. „Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern“, hat ihm der Zeitreisende verraten. „Nur die Zukunft liegt in unseren Händen.“ Und dann sagt er noch etwas ganz Wichtiges: „Wenn man sich an das Vergangene erinnert, an Gutes wie an Schlechtes, kann man die Zukunft so gestalten, dass sie besser ist als die Vergangenheit.“
Mit seinem Roman, der scheinbar unbekümmert Unvereinbares zusammenbringt, den Holocaust mit Fantasy, den Schrecken und das Abenteuer, hilft der 43-jährige Szcygielski dabei, die Erinnerung wachzuhalten. Nicht mit strenger Ermahnung, sondern mit bester Unterhaltung. Das gelingt ihm auch deshalb so gut, weil er alles – die Gegenwart und die Zukunft – aus der Perspektive des kleinen Rafal schildert, für den Traum undWirklichkeit ganz natürlich in einander übergehen. Sind doch die Bücher für ihn die „Flügel aus Papier“, die ihn aus dem Alltagselend in eine andere Welt tragen.
Marcin Szczygielski, Flügel aus Papier, Sauerländer, S. Fischer, 285 S., 13,99 Euro, ab 10