Aus dem Gleichgewicht: Orhan Pamuks „Cevdet und seine Söhne“

"Die Zeit verging so schnell. Sie sollte langsam vergehen. Alles sollte sich nur langsam ändern, und das Neue sollte das Alte pfleglich behandeln und jeder mit seiner Zeit und seiner Existenz zufrieden sein und keiner auf den anderen allzusehr achtgeben.“

So denkt Nigan, als sie mit Stolz auf ihre Nachkommen schaut. Ja, die Zeit vergeht schnell in diesem ersten und erstmals auf Deutsch erschienenem Roman von Orhan Pamuk, der 1905 beginnt und 1970 endet. Eine kurze Zeitspanne eigentlich, aber welch ein Weg für die Türkei

Vom klerikalen Feudalstaat zum laizistischen Kemalismus, vom Fez zum
Hut, vom Schleier zum offenen Haar. Eine neue Zeitrechnung, eine neue
Schrift. Und mittendrin die Familie Isiksi. Zunächst der fleißige Cevdet
und sein rebellischer Bruder, der bei seinem Tod einen wenig
sympathischen Sohn, Ziya, hinterlässt. Der Kaufmann Cevdet bringt es mit
viel Engagement zum Lampenfabrikanten und heiratet mit der Tochter eines
Paschas, die er nur zweimal flüchtig gesehen hat, in die bessere
Gesellschaft ein. Und doch wird diese Ehe glücklich.
Ganz anders als die der beiden Söhne, die vom Leben mehr erwarten als
den Fortbestand der Firma. Zwar folgt der ältere Sohn Osman brav den
väterlichen Spuren, hält die Geschäfte am Laufen, gründet eine Familie
und kümmert sich um die Sippe. Aber sein wahres Leben spielt sich
jenseits der Familienbande ab, bei der Geliebten. Und bei Refik, dem
jüngeren Sohn, ist die Saat des Zweifels aufgegangen. In Paris hat er
sich den Virus der Aufklärung eingefangen und nun tut er sich schwer,
seine Einsichten mit der türkischen Realität in Einklang zu bringen.
Refik trägt die Revolte in die Familie, zieht aus dem Generationen-Haus
aus, verlässt die Firma und wird schließlich von seiner Frau verlassen.
Auch seine Freunde kommen mit ihrem Leben in der Türkei nicht zurecht,
sind „aus dem Gleichgewicht“ wie Refik. Heiraten, Kinder zeugen, eine
Firma führen – das soll alles gewesen sein? Der eine will etwas ganz
Außerordentliches machen, ein Eroberer sein und scheitert am eigenen
Anspruch. Der Dritte im Bunde fühlt sich als Dichter und lässt sich vom
türkischen Nationalismus verführen. Und Refik? Verzettelt sich in
revolutionären Ideen, von denen er keine verwirklichen wird.
Der Funke der Aufklärung in einem Land unter der Knute der Diktatur. Das
kann nicht gut gehen. Pamuk zeigt, wie sich der Schatten der Macht über
den Alltag legt und jede Eigeninitiative im Keim erstickt. Nur wer wie
ferngesteuert agiert, wer nichts hinterfragt und sich nach außen hin
anpasst wie Osman kann Erfolg haben. Oder wer wendig ist und skrupellos
wie Ziya. Das muss auch Cevdets widerspenstige Tochter Ayse lernen. Wie
ein Familienpatriarch alter Schule bestimmt Osman über ihr Leben, ihre
Liebe und ihre Zukunft – und Ayse fügt sich.
Von Opferfest zu Opferfest verändert sich das Familiengefüge, auch wenn
der äußere Rahmen der Gleiche bleibt, zumindest, solange Nigan noch das
Sagen hat. Cevdet hat sich schon sich schon lange vor seinem Tod
verabschiedet von dieser Gesellschaft, in der er sich nicht mehr zuhause
fühlen kann. Auch seine Witwe flüchtet sich in ihre Träume von einer
idealisierten Vergangenheit.
Am nächsten ist ihr Ahmet, Refiks Sohn, ein Maler. Er repräsentiert die
dritte Generation, die alles leichter nimmt – selbst den wieder einmal
drohenden Militärputsch. „Sofort her mit dem Putsch, damit die Warterei
ein Ende hat“, denkt Ahmed. „Zeit fließ dahin!“ Bis heute ist viel Zeit
dahin geflossen und die Türkei ist ein Land im Wandel geblieben, wie
Orhan Pamuk im Nachwort schreibt, wo er die Buddenbrooks als Vorbild
nennt. Hier erfahren die Leser auch, was autobiographisch ist an diesem
Roman und warum sie Cevdets Erben im „Museum der Unschuld“ wieder
finden.
Jahrelang habe er sich für seinen ersten Roman geschämt, schreibt der
Nobelpreisträger auch, weil er „doch sehr eng an die Tradition des
europäischen Familienromans angelehnt“ war. Genau diese epische Breite
aber ist die Stärke des Romans, den Pamuk 1978 schrieb. Der Autor lässt
sich am Anfang alle Zeit der Welt, um Cevdets Wankelmütigkeit und sein
multinationales und multireligiöses Umfeld zu beschreiben. Soviel Zeit,
dass die Leser schon die Geduld zu verlieren drohen. Doch dann
entwickelt der Roman einen gewaltigen Sog, und spätestens nach 300
Seiten wünscht man sich, das Buch hätte noch 600 Seiten, um diese
auseinander driftende Familie bis in die Gegenwart begleiten zu können.
Info: Orhan Pamuk, Cevdet und seine Söhne, Hanser, 672 S.,24,90 Euro

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