Auf sanften Wegen in die Allgäuer Berge

Das Allgäu, eine Bilderbuchlandschaft: hohe Berge recken sich in den weißblauen Himmel und spiegeln sich in glasklaren Seen. Die Wiesen sind vom satten Grün naiver Malerei und die schmucken Häuser scharen sich wie es sich gehört um die Dorfkirche. Hier hat der Märchenkönig Ludwig II. seinen Sehnsüchten gefrönt und sich ein Märchenschloss erbaut, das wie kein anderes die Fantasie der Reisenden aus aller Welt beflügelt: Neuschwanstein.

 Doch es gibt noch ein anderes Allgäu jenseits von König Ludwig, ein Allgäu auch jenseits der großen Berge, das sich zu entdecken lohnt. Und das Schönste: dieses Allgäu beginnt schon beim Flugplatz Memmingerberg, quasi vor der Haustür. Lassen Sie sich verführen zu einer Fahrt auf sanften Wegen durch die Allgäuer Landschaft. Steigen Sie ins Auto zu einer Allgäuerin, die diese Gegend nicht nur kennt, sondern auch liebt. Die erste Station ist nur einen Katzensprung entfernt: Memmingen.
   Das mittelalterliche  Handelsstädtchen geizt nicht mit seinen Reizen. Nein, es stellt sie aus, auf  großzügig platzierten Infotafeln in drei Sprachen. „Das gibt’s in keiner anderen Stadt“, versichert Simone Zehnpfennig von Allgäu Marketing stolz. Auf den Bildern sind die Schätze Memmingens zu sehen: gotische Kirchen, mittelalterliche Zunfthäuser, das Renaissance-Rathaus, das Siebendächerhaus. Wir schlendern durch die von Stadtmauern umgebene Altstadt, lassen uns treiben durch verwinkelte Gassen und über südländisch anmutende Plätze. Zum Kreuzherrenkloster, dessen als Konzertsaal genutzter Innenraum in vollendetem Wessobrunner Stuck erstrahlt.  Zur St. Martinskirche, einem Aushängeschild bürgerlicher Gotik mit dem imposanten 500 Jahre alten Chorgestühl. Gleich zwei Frauen hat der  Holzschnitzer Ivo Strigel hier verewigt: die Frau des Bürgermeisters und seine eigene.  In der Kinderlehrkirche gleich nebenan wird die Antoniuslegende lebendig, dank Bernhard Striegel, der sie für die ehemalige Klosterkirche des Antoniterordens in Szene gesetzt hat. An der Memminger Ach, in der sich alte Zunfthäuser spiegeln, fühlen wir uns fast nach Venedig versetzt. Überall haben Cafes und Restaurants ihre Stühle rausgestellt. Doch Simone hat einen anderen Tipp: das Cafe Rau in der trendigen  Zangmeisterpassage, wo viel Glas die Enge der Innenhöfe fast bis zum Horizont öffnet. Das Cafe passt sich stimmig in dieses mit einem Architekturpreis gekrönte Ambiente, bringt Alt und Neu harmonisch zusammen. Unter glitzernden Lüstern haben verschwenderisch dekorierte Torten und  die vielfältigsten Pralinen ihren großen Auftritt. Eine süße Verführung, der kaum jemand widerstehen kann, nicht einmal Pächterin Christina-Maria Rau. „Am liebsten würde ich alles empfehlen“,  sagt die elegante blonde Frau, „wir machen ja jede Torte ganz frisch.“  Zwischen vier und fünf ausgebildete Konditoren zaubern zusammen mit zwei bis drei Auszubildenden im Souterrain unter den neugierigen Blicken der Vorübergehenden die süßen Köstlichkeiten. „Schokotrüffelsahne mit Banane im Baumkuchenring“  lässt sich Christina-Maria Rau schließlich doch noch ihren Favoriten entlocken. Mmm!
Aber Simone drängt weiter. Es gibt noch so viel zu sehen. Unsere nächste Station ist Schloss Kronburg, das als best erhaltenes Renaissanceschloss in Bayern gilt. „Dem Schloss liegt das ganze Oberallgäu zu Füßen“, schwärmt Simone, während sie das Auto die kurvenreiche Straße hoch lenkt.  Der Schlossherr erwartet uns schon: Theo Freiherr von Vequel-Westernach, ein schmaler distinguierter Herr im grauen Trachtenjanker, hält das imposante Anwesen mit seiner Frau Ulrike (53) und einer Hilfskraft am Laufen. Keine einfache Aufgabe, aber der 66-jährige Baron ist mit Leib und Seele dabei. „Ich fühle mich der Region verbunden“, sagt er und dass die Kronburg eine der ältesten Burganlagen im Allgäuer Raum ist mit Wurzeln bis in die Römerzeit. 35 000 Quadratmeter Dachfläche hat er bei der fälligen Generalsanierung reparieren lassen müssen und dafür immerhin zwei Millionen Mark hingelegt. Auch für den Baron kein Kleingeld. Die Einnahmen aus Forst, Landwirtschaft, aus Führungen, Veranstaltungen und dem neuen Gästehaus müssen dafür herhalten. Einen „Gemischtwarenladen“ nennt Ulrike von Vequel-Westernach das Ganze und doch würde sie nie weggehen wollen: „Ich würde mich als Verräter fühlen.“
Beim Rundgang durch die sechs repräsentativen Räume,  reich bestückt mit wertvollem Mobiliar aus Familienbesitz, Bildern und Kunstwerken lässt sich nachfühlen, was die Familie in Schloss Kronburg hält. Zwischen handbedruckten Leinentapeten, unter Stuck-  und bemalten Holzdecken lebt die Geschichte derer von Vequel-Westernach weiter. Und wenn man aus dem Fenster schaut, stehen die schönsten Berge am Horizont Spalier, von der Zugspitze über die Nagelfluhkette bis zum Säntis. Vergnügt erzählt der Herr des Hauses noch Hintergründiges zu einer kleinen, feinen Sammlung von Nachttöpfen, ehe er die Besucher in die zauberhafte Schlosskapelle führt. Da deutet er auf ein verstecktes Fenster ganz oben: „Da hatte die Familie den Durchblick – auf alles, was am Altar passierte.“  Den richtigen Durchblick suchen alljährlich führende Wirtschaftswissenschaftler, die  in Ottobeuren tagen und einen Abend auf Schloss Kronburg entspannen.
Das würden wir am liebsten auch. Aber wir müssen weiter.  Das Museumsdorf in Illerbeuren mit fast 30 historischen Gebäuden aus dem ganzen Allgäu und aus Bayerisch Schwaben, mit Schuhmacherei und Gaststätten, mit Kinderspiel- und Picknickplätzen lädt zu einer Zeitreise ein. Von Ferne grüßen schon die 82 Meter hohen Türme von Ottobeuren, der größten barocken Klosteranlage Deutschlands: 200 Räume, 800 Fenster, zwei Kilometer Gänge. „Da kann man sich verlaufen“. Frigga Freitling hat  damit  keine Probleme, die Organistin ist mit ihrem Jüngsten im Kinderwagen zur Führung gekommen. Die junge Frau ist gern in der riesigen Kirche. „Man kann hier nicht oft genug sein“, sagt sie und deutet auf die drei Kuppeln, die jede in satten Farben eine eigene Geschichte erzählen. Die ganze Basilika sei voller Symbolik, „selbst die Steine haben hier Bedeutung“. 1200 Putten purzeln durch den Kirchenraum mit seinen 16 Altären und der Klang der Orgeln ist legendär. Besonders eindrucksvoll sei die Eldern-Prozession am Pfingstmontag zu Ehren der kleinen Madonna von Eldern, erzählt Frigga, vor allem am Abend, wenn unter dem Nachthimmel tausend Kerzen leuchten.
Wir haben Hunger bekommen. Das kleine Brauhaus, das früher zum Kloster gehörte, verspricht Bodenständiges. Aber Simone hat anderes im Auge. „Im neuen Parkhotel  Maximilian kocht ein Haubenkoch“, verrät sie. Sven Köhlers feinsinnige Küche hat schon in Rügen überzeugt,  jetzt will das Nordlicht beweisen, dass auch im Allgäu ambitionierte Küche mit regionalen Produkten möglich ist. 
Viel Zeit zum Genießen haben wir nicht. In Kempten wartet schon Maria Menzel, um uns den APC (Archäologischen Park Campodonum) zu zeigen. „Bei Führungen verlangen wir Fantasie“, erklärt sie gleich zu Anfang resolut, denn außer Fundamenten ist hier nur wenig Originales zu sehen. Dafür hat man spielerisch  und mit viel Liebe zum Detail die große Geschichte der alten Stadt inszeniert und Maria Menzel füllt die Gebäudehüllen mit einer höchst menschlichen Götterwelt. Selbst die „Probleme mir poströmischen Mäusen“, die sich an den „Opfergaben“ laben, klammert sie nicht aus. Man glaubt ihr gerne, wenn sie sagt: „Man kann hier anfassen, was erleben, Geschichte nachvollziehen“. Das gilt auch für die Thermen, wo sich Maria über die Latrinen als Kommunikationszentrum amüsiert. Aber natürlich ist Kempten nicht nur Campodonum, sondern auch lebendige Stadt. Dabei waren erst 1802 die Mauern zwischen der katholischen und der protestantischen Stadt eingerissen worden, um die Versöhnung zwischen den heillos zerstrittenen Bürgern zu erzwingen. Es gab alles doppelt, das Rathaus, das Kronhaus, die Kirchen. Maria zeigt uns „Klein Versailles in Kempten“,  den Thronsaal der Residenz, verspiegelt und mit vergoldetem Stuck, „ein perfekter Rokokoraum“ mit einer Stuckbalustrade von Dominikus Zimmermann, der als Schöpfer der Wieskirche weltberühmt wurde. Heute manifestiert sich  Bürgerstolz in den Bauwerken. Gerade wird der Salzstadel, der schon bisher als Theater diente, für viereinhalb Millionen Euro saniert und umgebaut. 
Wir verlassen die Stadt und haben wieder die Berge im Blick. Im Rottachsee stehen die Gipfel Kopf. Das Wasser ist weich und lädt zum Bade. Wanderwege verlocken dazu, sich die Füße zu vertreten. Kühe grasen auf grünen Weiden und bei Seeg fühlen wir uns in den Orient versetzt. Kamele mischen sich unters Braunvieh – eine Kamelfarm mit Reiterhof verspricht exotische Ausritte. Die Straße schlängelt sich durch eine Bilderbuchidylle, schnell fahren ist hier nicht möglich, überholen lebensgefährlich.  Zeit also, aus dem Fenster zu schauen, die vorüber ziehende Landschaft zu genießen. Den zauberhaften Schwaltenweiher, der abseits der Touristenströme liegt, den Hopfensee, die „Riviera des Allgäus“, die Dörfer mit ihren Kirchen, die sanften grünen Hügel, die von silbernen Bächen durchzogenen Moore und die schroffen Berge im Hintergrund. Wenn die Sonne scheint, der Himmel blau ist und die Luft lau,  kann kein Film schöner sein.
Dann Füssen. Unter dem trutzigen Hohen Schloss drängt sich die schnuckelige Altstadt mit der imposanten Klosteranlage St. Mang. Hier treffen wir einen, der immer noch von einer heilen Welt träumt wie weiland der „Kini“. Herbert Köpf (59) sieht aus wie ein älter gewordener Ludwig II., ein Kini ohne Bauch und aufgeschwemmten Gesichtszügen. Köpf gibt den sagenumwobenen Erbauer von Neuschwanstein für Filmer und Touristen. Dann färbt er Haare und Bart, die mittlerweile grau sind, hüllt sich in den Königsmantel und nimmt seine Sisi (natürlich auch ein Double) in den Arm. Das wirkt, vor allem auf die Japaner. „Die staunen Bauklötze“, freut sich der Königs-Darsteller und erzählt vom nächsten Fernsehfilm für Bayern Drei.  Die Rolle ist ihm längst zum Lebensinhalt geworden und die Füssener spielen mit. „Bedienst du den König?“ heißt es, wenn der 59-jährige  einkaufen geht. Der lässt sich’s gern gefallen. Köpf ist ein Kind der Stadt und er  kann viel über die Geschichte Füssens erzählen, von den Lauten- und Geigenbauern, von den Bischöfen und natürlich vom Märchenkönig.
 

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