Achterbahnfahrt durch Lissabon

„Mit der hunderte Jahre alten Straßenbahn von Lissabon fuhr Gregorius zurück in das Bern seiner Kindheit. Der Tramwagen, der ihn holpernd, schüttelnd und klingelnd durchs Bairro Alto fuhr, schien sich ins nichts von den alten Tramwagen zu unterscheiden, mit denen er, als er noch nichts zu zahlen brauchte, stundenlang durch die Straßen und Gassen Berns gefahren war. Die gleichen Bänke aus lackierten Holzleisten, die gleiche Klingelschnur neben den Haltegriffen, die von der Decke herunterhingen, der gleiche Metallarm, den der Fahrer für das Bremsen und Beschleunigen betätigte und dessen Wirkungsweise Gregorius heute genauso wenig verstand wie damals.“
In seinem Buch „Nachtzug nach Lissabon“ hat Pascale Mercier der Electrico ein literarisches Denkmal gesetzt. Nicht nur in Bern werden solche Fahrzeuge eingemottet oder im Museum ausgestellt. In Lissabon sind die betagten Straßenbahnen noch unterwegs, sehr zur Freude der Touristen, die in den Oldtimern auf schmalen Gleisen in relativ kurzer Zeit einen guten Überblick über Lissabons Altstadt bekommen. Es sei denn, es kommt was dazwischen…


Ein Auto beispielsweise, das falsch parkt. An einer Ecke, um die sich
die Straßenbahn ohnehin nur mit Mühe winden kann. Gebimmel, Geschrei,
Getöse. Alles steigt aus und schart sich um das Hindernis auf vier
Rädern. Die Fahrgäste vertreten sich die Beine und nützen den
unfreiwilligen Halt, um ein paar Fotos zu machen hier in der Alfama von
Lissabon, wo alles fotogen ist: die pastelfarbenen Häuser, die
schmalen, steilen Gässchen, die schattigen Innenhöfe. Von der anderen
Seite nähern sich zwei andere Trams, die Fahrer beratschlagen heftig
gestikulierend. Und dann kommt er, der Wegelagerer, ganz cool, steigt
wortlos in sein Auto und fährt weg. Die aufgeregte Touristenschar teilt
sich auf die Straßenbahnen auf, die Fotografen stürzen in letzter
Minute herbei.
Und weiter geht die Fahrt in abenteuerlichem Bergauf und Bergauf,
über halsbrecherische Serpentinen und wilde Gleisverschlingungen. In
den schmalen Gässchen sprinten die Fußgänger in die Hauseingänge, um
nicht an die Wand gedrückt zu werden. Die Elektrische vermittelt, was
sonst nur ein Bummel zu Fuß kann: Stadtgefühl hautnah, in Lissabon, der
Schönen am Tejo, etwas zwischen Saudade, der portugiesischen Melancholie, und Lebenshunger.
Am schönsten ist die Fahrt mit der Linie 28, die seit fast 100 Jahren durch die Altstadtviertel Belem, Baixa, Bairro Alto und eben die Alfama
rattert. Ganz so alt sind auch diese Viertel nicht, denn das Erdbeben
von 1755 hat Lissabon – mit Ausnahme der Alfama – weitgehend zerstört.
Nur gut, dass der Marques de Pombal den Wiederaufbau tatkräftig in Angriff genommen hat. Ihm und dem Baumeister Manuel de Maia
verdankt die Stadt auf den sieben Hügeln die großzügigen Plätze und
prunkvollen Paläste. Die Stadt setzte dafür dem Marques ein Denkmal auf
dem nach ihm benannten Platz. Hier beginnt auch die repräsentative Avenida da Liberdade, gesäumt von Gebäuden aus der Jahrhundertwende, in denen heute Hotels, Banken und Versicherungen residieren.
Am Fuß dieser Prachtallee direkt hinter dem Obelisken, erstreckt sich die Baixa, die Unterstadt mit der Praca Dom Pedro IV und der Praca do Comercio am Hafen, dem eigentlichen Herzen der Stadt und für Portugals berühmtesten Dichter, Fernando Pessoa
„eine wunderbare Traumvision“. Hier ist alles prächtig: die Paläste
der Ministerien, spätbarock bis neoklassizistisch, die weißen Arkaden,
der Triumphbogen. Selbst der Bahnhof sieht auch wie ein Theater. Die
ganze Stadt hat etwas von einem Theater und die Lissabonner inszenieren
jeden Tag aufs Neue das Stück „Modernes Leben in einer alten Stadt“.
Schuhputzer und Losverkäufer mischen sich unter dem Denkmal Pedros IV.
unter junge Frauen mit hohen Stiefeln und kurzen Röcken und kernige
Männer, die unter den eng anliegenden Hemden ihre Muskeln spielen
lassen.
Unbeeindruckt fährt die Straßenbahn weiter und wer in der Rua do Ouro nicht aussteigt, erhascht gerade noch einen Blick auf eines der sonderbarsten Bauwerke in dieser Stadt, den Elevador do Carmo,
der die Unterstadt mit der Oberstadt, Bairro Alto, verbindet. Den 32
Meter hohen neugotischen Turm aus Schmiedeeisen samt Fahrstuhl hat Raoul Mesnier de Pousard, ein Schüler Gustav Eiffels
1901 den fußmüden Stadtbummler hingestellt. Von der Plattform aus hat
man ganz ungewöhnliche Einblicke in die schachbrettartige Anlage der
Baixa.
Die Electrico strebt allmählich bergauf in die Alfama, windet sich
durch enge Kurven, vorbei an Hausfassaden mit Azulejos, den
portugiesischen Kacheln, in grün und blau, aufwändig dekoriert oder
einfarbig. Vorbei an Häusern, von denen der Verputz blättert, an
kleinen Läden und einladenden Cafes, an grünen Oasen, wo alte Männer
auf der Bank den Tag verschwatzen. Zwischendurch öffnet sich der Blick
auf den Tejo, es geht wieder steil bergab, vorbei an der Kirche Sao Vicente,
wo sich samstags und dienstags Flohmarkt-Stände ausbreiten. Kurz bevor
das Bähnle in den Fluss zu stürzen droht, bremst der Fahrer scharf ab
und lenkt seinen Oldtimer elegant in eine schmale Gasse. In der Rua da Salvador klettert die Tram wieder steil bergan zur Praca Santa Lucia.
Ein schneller Blick auf das silbrig schimmernde breite Band des Tejo,
auf Freiluftcafes und Kirche und schon geht’s wieder bergab. Fast wie
in der Achterbahn.
Wäsche flattert vor den Fenstern, dunkelviolette Bougainvilleas ranken
sich an Häusern hoch, links fällt die Kathedrale ins Auge, rechts die Antoniuskirche. Ein kleines Museum erinnert daran, dass der heilige Antonius,
Schutzpatron der Vergesslichen, in Lissabon – nicht in Padua, das auch
Anspruch auf den Heiligen erhebt – geboren wurde. Es lohnt sich also
wieder einmal, auszusteigen und sich durch das Gewirr der
Altstadtgassen treiben zu lassen. Topfblumen zieren die Fenster,
Kanarienvögel trällern, in den Hinterhöfen spielen Kinder und erzählen
sich Matronen den neuesten Klatsch.
Weiter geht’s mit dem Bähnle wieder in Richtung Baixa: die Straßen,
flankiert von Modegeschäften und Kramläden, werden breiter, die
Ordnung wirkt fast geometrisch. Zu früh gefreut, wir lassen den
Triumphbogen links liegen und schon zockelt die Electrico wieder
aufwärts die Rua Vitor Cordon, um dann in eine halsbrecherische Kurve
bei der Rua dos Duques de Braganca einzubiegen. Am Largo do Chiado treffen wir auf die Tram-Konkurrenz, die Metro – und das älteste Cafe der Stadt, das Brasileira,
wo seit dem 19. Jahrhundert echter brasilianischer Kaffee serviert
wird. Künstler kommen kaum mehr ins einstige Künstlercafe, das heute
dank der Insider-Tipps der Reiseführer von Touristen überlaufen ist.
Wer’s intimer mag, trinkt seinen Espresso in einer der kleinen Bars,
wie sie hier an allen Ecken zu finden sind. Der Nationaldichter Luiz de Camoes (1524 bis 1580, „Die Lusiaden“) blickt von seinem Sockel aus streng auf das großstädtische Treiben.
Das Bähnle rattert weiter, vorbei an der Zahnradbahn, die daran
erinnert, dass Lissabon auf sieben Hügeln erbaut wurde. Auch mit der
Tram geht’s wieder steil bergab. Am Straßenrand auffällig viele leer
stehende Gebäude. Oft wohnen nur noch alte Leute in den baufälligen
Häusern, deren Eigentümer nur darauf warten, dass die letzten Mieter
wegsterben, um die Häuser teuer zu verkaufen. Das ist in Lissabon nicht
anders als anderswo.
Ein kleiner Fußmarsch führt von der Tram-Haltestelle in Belem zum Torre de Belem,
dem Wahrzeichen Lissabons. Der ehemalige Leuchtturm aus dem Jahr 1515
hat das große Erdbeben heil überstanden. Wer zur obersten Etage
(Eintritt drei Euro) hinaufsteigt, dem liegt Lissabon zu Füßen. Die
süße Belohnung gibt’s unten, in der Konditorei „Antiga Confeitaria dos Pasteis de Belem"
in der Rua de Belem. Die Cremetörtchen Pasteis de Belem sind einfach
unwiderstehlich – aber vielleicht nicht gerade das richtige für die
Achterbahnfahrt mit der Tram.

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