Bern hat 130.610 Einwohner und sechs Bären, 13 Zunftgesell- und 80 Botschaften, eine Michele Hunziker und einen Paul Klee, die Toblerone, neun Brücken, 105 Meter Drahtseilbahn und 32 Quartiere. Eines davon ist die Matte. Und es ist ein Viertel, das man im als behäbig und bieder geltenden Bern eigentlich nicht erwartet. Eine Art Biotop für alternative Lebensformen, Kunst und Kultur.
Der Läuferbrunnen nahe der Aare ist derzeit verwaist: der namensgebende
Läufer wird runderneuert. Auch sonst ist im Berner Viertel Matte, da,
wohin einst die Berner Bürger die Metzger und Gerber und auch den Henker
verbannt hatten, vieles im Wandel. Das einstige Handwerkerquartier ist
„in“: Künstler, Graphiker, Architekten stehen auf der Matte. Auch der
Mittelstand macht sich in den schnuckeligen Häusern breit. Legendär ist die Eigenständigkeit, auf die Matte-Bewohner über
Jahrhunderte stolz waren, bis heute. Mit einer eigenen Sprache grenzten
sie sich gegen die Bewohner der verhassten Oberstadt ab. Die Aare
bescherte ihnen Arbeit und Wohlstand. In den Badehäusern und Bordellen,
die selbst Casanova als „sehr freizügig“ beschrieb, vergnügten sich –
man glaubt es kaum – auch die Bürger Berns.
Auf der „Kälberflotte“, den Schiffen mit Schlachtvieh, reisten damals
auch die Menschen von Thun nach Bern, Endstation Matte. Doch als 1857
die Eisenbahn nach Bern kam, war es aus mit dem Schiffsverkehr. Die
Matte verkam zum Armutsviertel, Häuser verfielen. Erst in der Mitte des
20. Jahrhunderts wurde das alte Viertel neu entdeckt und saniert. Vieles
wurde abgerissen und neu wieder aufgebaut.
Ein paar Wahrzeichen aus alter Zeit haben überlebt wie das Gebäude der
Lindt-Schokoladenfabrik, die Wiege der süßen Schweizer Traditionsmarke.
1879 hatte Rudolphe Lindt nach einer Lehre im Schokoladenbetrieb des
Onkels in Lausanne, in einer heruntergekommenen Mühle seine eigene
Chocolaterie eröffnet. „Die Herstellung von Schokolade ist so delikat
wie das Dekolletee einer Dame“, war die Überzeugung des lebenslustigen
Schweizers. Ob er die Chocolat fondant, die schmelzende Schokolade,
wirklich durch Zufall entdeckt hat, weil er seine Maschinen während
eines Liebesabenteuers einfach weiter rühren ließ? Wer weiß. Die
Geschichte passt jedenfalls zur Matte und zum Bonvivant Lindt, der 1899
Fabrik und Geheimrezept an den Konkurrenten Sprüngli verkaufte und dafür
sagenhafte 1,5 Millionen Goldfranken kassierte.
Lange Zeit gehörten Überschwemmungen in der Matte zum Alltag. Die Aare
spülte Sand und Kies in die Erdgeschosse der Häuser. Die Menschen
schippten alles ganz einfach auf die Straße, die so immer höher wurde.
Bis heute liegen die Lauben einen halben Meter niedriger. Ein
buddhistisches Zentrum hat sich in den Arkaden angesiedelt, gleich
nebenan wird Thai Massage angeboten. Ein Malerladen wirbt mit einer
aufgemalten Arbeitsszene, ein Blumenladen mit grünem Dekor. Ein von
Vorhängen eingerahmtes Schaufenster wird zur Bühne für Duftlampen,
Räucherstäbchen und esoterische Literatur. 2005 stand den Läden das
letzte Aare-Hochwasser bis an die Decke. Heute sollen aufblasbare Dämme
solche Überschwemmungen verhindern.
„Ligu Lehm“ nennt sich ein Lokal nahe dem alten Waschbrunnen – ein Stück
Brot. Hier lebt das Matte-Berndeutsch weiter, eine Mischung aus
Französisch, Rotwelsch, Hebräisch und anderen Sprachen, die von den
ausländischen Arbeitern, die mit den Aare-Schiffen kamen, in die Matte
gebracht wurden. Nüütnutze hatten auch damals keine Chance. Dafür
sorgten die Tschugger, die solche Tunichtguts alsbald einbuchteten. Eine
zweite Geheimsprache, das Matteänglisch, hat seine Wurzeln in der
Geheimsprache der Flößer. Sein Überleben sichert ein eigener Verein, der
im ehemaligen Waschhaus sein Vereinslokal hat. Wer mag, kann sich bei
einem Kurs in die Geheimnisse der Mätteler einweihen lassen.
Oder er lässt sich von Claudia Gerber zu einem Blick hinter die schön
getünchten Fassaden verführen. Die studierte Pädagogin und frei
schaffende Schauspielerin schlüpft blitzschnell von einer Rolle in die
andere, gibt unter der Brücke einen Schiffer, am Brunnen eine Waschfrau
und auf der Treppe zur Oberstadt den Casanova. Berührungsängste kennt
die 31-Jährige, die für Stadtrundgänge zu buchen ist, keine. Wenn sie
als Casanova vom Berner Abenteuer erzählt, ist das ganz schön deftig, und
auch als Waschweib hält sie ihre Zunge nicht im Zaum. Das passt zur
Matte, deren Bewohner denen da oben gerne eine Nase drehten.
Heute sind Ober- und Unterstadt zusammengewachsen. Und die Besucher
müssen nicht über die 183 Holzstufen der der 600 Jahre alten
Mattentreppe steigen, wenn sie ins Zentrum der Schweizer Hauptstadt
wollen. Von der Badgasse aus bringt sie der Mattelift in Windeseile auf
die Münsterplattform. Oder sie gönnen sich das Vergnügen mit der
kürzesten öffentlichen Standseilbahn Europas zum Bundeshaus zu fahren.
Die Marzillibahn überwindet auf ihrer 105 Meter langen Strecke gerade
mal 31 Höhenmeter. Auch ein Rekord.