Die Stadt ist lebendig, ein wimmelnder Organismus, der nie zur Ruhe zu kommen scheint und immer wieder neue Auswüchse gebiert. Drei Millionen Menschen leben in Caracas oder doch eher fünf Millionen, rechnet man die Barrios mit, jene Slums, die an den Bergen hochkriechen wie ein bunter Flickenteppich. Wer zählt schon die Kinder, die hier geboren werden und die Toten, die Bandenkriege oder die mangelnde Hygiene fordern? Wer nicht dort wohnt, kommt auch nicht dorthin. Es sei denn, er ist lebensmüde. Denn die Gangs schießen scharf und die meisten Bewohner sind bewaffnet.
60 Prozent aller Venezolaner leben in solchen Elendsvierteln, in
schnell hochgezogenen Hütten, die nur die dicke Pastellfarbe
zusammenzuhalten scheint. Das scheinbare Chaos folgt eigenen Gesetzen
und ist für die Stadtarchitekten von WorldView gerade wegen der dichten
Besiedlung und dem dort herrschenden Mikroklima zukunftsweisend. Eine
Einschätzung, die fast zynisch erscheint angesichts von Katastrophen
wie der von 1999, als ein Erdrutsch 90 000 Bewohner eines Barrios in
den Tod riss und noch mehr obdachlos machte. Heute sind die Barrios von
Caracas die Keimzellen für die Truppen des Hugo Chavez, Venezuelas
ebenso charismatischen wie umstrittenen Präsidenten. Hier wird die
Revolution mit allen Mitteln verteidigt – auch mit Gewehren. „Er ist
der erste Politiker, der unsere Probleme wirklich ernst nimmt“, hört
man immer wieder. Chavez, der sich zum „Jesus Christus der Armen“
ernannt hat, wird hier als Retter in der Not gefeiert. Er selbst sieht
sich als der Erbe eines ganz Großen Südamerikas. Mehr noch, als eine
Art Wiedergeburt des legendären Befreiers. Er habe die Seele Bolivars,
behauptet Chavez.
Im brodelnden Zentrum, wo Langfinger auf die Pirsch gehen, schöne Huren
ihre makellose Haut zu Markte tragen und die Polizei gelangweilte
Präsenz zeigt, wo die Luft von Musik und Straßenlärm erfüllt ist und
sich alte Caraquenos beim Kartenspielen die Zeit vertreiben, kann man
dem Staatsgründer Bolivar nicht entgehen. Das großzügige Haus der
Familie im Kolonialstil ist heute Museum, heroische Wandgemälde feiern
die Geschichte des Landes und zeigen Szenen aus dem Leben des Helden,
der sich nach einer Reihe von Schicksalsschlägen dazu entschloss, sein
Leben der Freiheit der Länder Südamerikas zu widmen. Auf dem
Monumentalgemälde „Mein Delirium am Chimborazo“ etwa begegnet man einem
noch jungen Bolivar mit dem Engel der Zeit. In einer Vitrine liegen
Bücher und Familienporträts, Orden und Alltagsutensilien bunt
durcheinander.
Draußen auf der Plaza Venezolana sind die Namen der von Bolivar
befreiten Länder – Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru, Panama und das
nach ihm benannte Bolivien – in Stein gemeißelt – am Haus der
Bankenaufsicht. Auch drinnen geht es um Bolivar, das Zahlungsmittel
Venezuelas. Im letzten Jahr erst wurde der alte Bolivar durch die
Streichung von drei Nullen zum Bolivar fuerte, was die Inflation nicht
weiter zu beeindrucken scheint. Im Juli ist sie auf 26 Prozent
hochgeschnellt.
Ein Denkmal mit dem Helden hoch zu Ross dominiert die Plaza Bolivar, wo
die Schönen und die Reichen gerne flanieren. Untertags zumindest. Denn
nachts ist Caracas gefährlich. „Hier leben die normalen Leute hinter
die Gittern und die Räuber laufen frei herum“, ärgert sich Ludwig,
Computer-Ingenieur und Freizeit-Taxifahrer. Mit Brille und Jeans wirkt
er wie ein Lehrer, auf alle Fälle ein Mitglied der Mittelschicht. Für
sie und mehr noch für die Oberschicht der Stadt ist Bolivars selbst
ernannter Erbe der leibhaftige Teufel. Im Nobelviertel Altamira haben
sich die Reichen hinter Mauern, Elektrozäunen, Gittern und Stacheldraht
verschanzt.
Sie fürchten den Druck der Straße. „Die Chavistas sehen doch alles
durch die rosarote Brille“, sagt Ludwig. „Chavez behauptet Fidel Castro
sei sein Vater und die armen Leute glauben ihm alles, weil er sie hin
und wieder mit Geschenken wie Kühlschränken oder Fernsehern beglückt.“
Vor allem vor der Wahl. Der Präsident hetze die Menschen gegeneinander
auf, fürchtet Claudia, eine 28-jährige Filmproduzentin mit blondem
Pferdeschwanz. „Unsere Gesellschaft ist gespalten, arm gegen reich,
reich gegen arm“, erklärt sie resigniert. Von „der korrupten Regierung“
erwartet sie wenig („Die haben doch längst ihre Schäfchen im
Trockenen“). Doch wie Ludwig ist auch Claudia überzeugt davon, dass
Chavez dem Land „noch lange erhalten bleibt“.
„Venezuela es el ídolo de mi corazón y Caracas es mi patria“. Der
Ausspruch könnte von Chavez sein, aber es war Simon Bolivar, der
Venezuela als Abbild seines Herzens und Caracas als sein Vaterland
bezeichnet hat. Auf naiven Wandmalereien entlang der autopista werden
seine Heldentaten grellbunt in Szene gesetzt. Und auf dem monumentalen
Paseo Los Proceres, dem von den Pariser Champs Elysees inspirierten
Helden-Boulevard, gebührt Bolivar der erste Rang unter den Kämpfern für
die Freiheit. Unter den strengen Blicken der gigantischen Statuen
drehen Jogger ihre Runden, fahren Mütter ihren Nachwuchs spazieren und
promenieren verliebte Pärchen. Wasser plätschert, der Wind raschelt in
den Bäumen, Vögel zwitschern. Nur wenn Markt ist – für Lebensmittel
oder auch für Schulbedarf – schwappt das laute, lebenspralle Caracas in
diese steinerne Oase der Ruhe.
Für Chavez ist dies der beste Platz, um sich als Apostel Bolivars zu
inszenieren. Hier empfängt er seine Staatsgäste zu Militärparaden, hier
hat er auch die „Revolución Bolivariana“ proklamiert, die das
politische Leben im Geiste Bolivars verändern soll. Ziel ist eine Art
Basisdemokratie, in der alle an Bildung und Wohlstand teilhaben. Mit
der Universidad Bolivariana hat Chavez dafür einen Grundstein
geschaffen. Hier dürfen alle studieren, kostenlos. Auch die
Studieninhalte unterscheiden sich von denen der konservativen
Universität: Architekturstudenten etwa lernen ihr Metier praxisnah – in
den Barrios.