Ihr Roman „Zeit der Unschuld“ aus dem Jahr 1920 wurde mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet, dennoch stand Edith Wharton immer im Schatten von Henry James. Zu Unrecht, wie die Neu-Übersetzung ihres Meisterwerks durch Andrea Ott zeigt. Wharton stellt einen jungen New Yorker der Oberklasse in den Mittelpunkt: Newland Archer steht kurz vor der Heirat mit der jungen, hübschen und ach so unschuldigen May Welland, eine von der einflussreichen High Society der damaligen Kleinstadt goutierte Verbindung. Doch dann begegnet er Mays unangepasster Cousine Ellen. Die Gräfin Olenska hat ihren ungarischen Mann verlassen und ist zu ihrer Familie zurückgekehrt, ein Skandal. Denn Frauen haben nach der vorherrschenden Meinung jener Zeit bei ihrem Mann auszuharren – in guten wie in schlechten Zeiten.
Der junge Anwalt Newland ist fasziniert von der gereiften Frau, die als Kind seine Spielgenossin war. Ist es ihre dunkle Schönheit, die ihn anzieht, oder ihre obskure Vergangenheit? Die Begegnung mit der Gräfin Olenska und die unbarmherzige Kritik der feinen Gesellschaft an ihr sensibilisieren den jungen Mann für die Doppelmoral, in der es sich vor allem die Männer bequem gemacht haben. Er spürt das Korsett der Konventionen, das ihm die Luft zum Atmen zu nehmen droht. Spürt, wie die erstickende Enge der New Yorker Society jeden Ausbruchsversuch verhindert. Verzweifelt wehrt sich Newland dagegen, eines der Abziehbilder zu werden, die in dieser Gesellschaft so angesehen sind. Die Liebe zur Gräfin Olenska dient ihm als Vehikel, sein Anderssein zu kultivieren.
Trotzdem fügt er sich den gesellschaftlichen Normen, heiratet May und nimmt damit seine Rolle im Welland-Clan an. Die Liebe zu Ellen hütet er dabei wie einen geheimen Schatz. Und obwohl die Gräfin diese Liebe erwidert, kommt es zwischen den beiden nie zu mehr als einem heimlichen Kuss. Denn während Ellen zögert, weil sie May und ihrer Familie keinen Schmerz zufügen will, bleibt Archer auf Distanz, weil er Angst hat, den eigenen Traum zu zerstören. Wharton deutet das schon ganz früh an, als sie ihn charakterisiert: „Oft verschaffte es ihm subtilere Befriedigung, sich ein bevorstehendes Vergnügen nur vorzustellen, als es tatsächlich zu erleben.“
Als der junge Ehemann sich endlich durchringt, zu seiner Liebe zu stehen, kappt Ellen die Verbindung durch ihre Flucht nach Europa. So bleibt Newland mit der Erinnerung an sie zurück, einer Erinnerung, die ihn sein ganzes Leben begleitet. Gerade, weil er diese Liebe nicht ganz auskosten konnte, bleibt das Bild der Gräfin so anziehend wie am ersten Tag. Eine Begegnung mit der wirklichen Frau aus seinen Träumen würde es nur zerstören. So entscheidet sich Newland für sein sicheres Scheinleben im Rahmen der New Yorker Konventionen und überlässt es seinen Kindern, das Korsett zu sprengen.
Edith Wharton hat aus dieser Dreiecks-Geschichte einen sprachfunkelnden Roman konstruiert, der bis zum Ende die Aufmerksamkeit der Leser fordert. Denn hier zählt jedes Zögern, jede Geste, ja selbst das Interieur der Salons. Wharton ist eine feinsinnige Beobachterin. Sie arbeitet nicht mit dem Skalpell sondern mit der Pinzette, wenn sie die Lebenslügen Archers entlarvt. Newland ist kein Held, er hat seine große Liebe nicht nur auf dem Altar der Konventionen geopfert, sondern auch aus Eigennutz. Fast könnte man auf die Idee kommen, dass die stille May, die im Hintergrund ganz konventionell die Fäden zieht, die eigentliche Heldin ist. Zu der neuen großartigen Übersetzung liefert Paul Ingendaay ein lesenwertes Nachwort.
Info: Edith Wharton, Zeit der Unschuld, Manesse, 392 S., 26,95 Euro, http://www.randomhouse.de/Buch/Zeit-der-Unschuld-Roman/Edith-Wharton/e449639.rhd
22Dez. 2015