Er kann sich einlassen auf seine Figuren, so sehr, dass sie einem ganz nahe kommen. Das gilt auch für historische Persönlichkeiten wie den Räuber Hannikel, die verbannte Prinzessin von Sansibar oder den Expeditionsmaler auf James Cooks Südseereise. Und es gilt erst recht für die Menschen unserer Tage. Um sie geht es in dem neuen Roman „Auf beiden Seiten“. Und, wie der Titel schon sagt, geht es wie so oft bei diesem klugen Autor auch darum, wie es ist, zwischen zwei Welten zu leben.
Im Mittelpunkt des Buches steht der Journalist Mario, auch er eine zerrissene Persönlichkeit. Sein Ehrgeiz, als linker Enthüllungsjournalist anerkannt zu werden, hat sich nicht erfüllt. Seine Ehe ist zerbrochen. Der Fall der Mauer hat alte Gewissheiten ins Wanken gebracht und neue Fragen aufgeworfen. Fragen, die vor allem den Mann betreffen, der Marios Leben geprägt hat wie kein anderer: Dr. Armand Gruber, Deutschlehrer, Hauptmann der Schweizer Armee – und Mitglied in der geheimen Widerstandsgruppe P-26, die nach dem Mauerfall aufgelöst wurde. Vom Doppelleben des fanatischen Antikommunisten ahnte Mario, der Lieblingsschüler, nichts ebenso wenig wie Bettina, seine spätere Frau, die Tochter des Lehrers, die früh gegen den strengen Vater rebelliert. Auch Karina, Bettinas Freundin, als Tochter des Hausmeisters beim Schweizer Geheimdienst in kontrollierter Enge aufwuchs, weiß nichts davon. Erst die Auflösung der Organisation bringt es an den Tag, dass über „verdächtige“ Personen Akten angelegt worden waren und dass biedere Bürger wie Dr. Gruber sich im Geheimzirkel als Widerstandskämpfer fühlen konnten.
Lukas Hartmann nimmt diese kaum bekannte Seite der Schweizer Geschichte zum Anlass, um zu zeigen, was diese auf Misstrauen basierende Geheimniskrämerei mit den Menschen macht. Er beschreibt, wie sie verkümmern, blind werden gegen das Leiden der anderen – auf beiden Seiten. Doch damit begnügt sich der Autor nicht, er erzählt von der Enge der Nachkriegsschweiz, von Frauen, die ihr Eigenleben für die Familie opferten, von Haustyrannen und rebellischen Kindern, von trostlosen Männerfreundschaften und verzweifelten Liebesabenteuern, von Vaterfreuden und der Verzweiflung angesichts des Leidens der Kinder in Afrika. Bert Brecht, „der Guru der Linken“ in der DDR kommt vor und Adalbert Stifter, der den Deutschlehrer Gruber inspirierte. Das klingt, als habe Lukas Hartmann diesmal zu viel in seinen Roman gepackt. Und doch liest sich das Ganze schlüssig, denn Hartmann erzählt aus den unterschiedlichsten Perspektiven. Nicht nur Mario kommt zu Wort, auch Bettina, seine Frau, Karina, die Geliebte und selbst Gruber. Am Ende versuchen Bettina und Mario gemeinsam, die zerrissenen Blätter aus Grubers Lebenswerk über Stifter zusammenzusetzen – vergeblich. Das Puzzle des Lebens bleibt rätselhaft.
„Ich will Bücher schreiben, die gerne gelesen werden“, hat Lukas Hartmann in einem Interview gesagt. Das ist ihm auch diesmal gelungen.
Info: Lukas Hartmann, Auf beiden Seiten, Diogenes, 331 S., 23,90 Euro
30Mrz. 2015