Dämmerung in der Lagune von Venedig. Im perlmuttfarbenen Abendrot scheint die Stadt zu schweben zwischen Himmel und Meer. Ein Anblick von geradezu herzzerreißender Schönheit, der klar macht, warum Schriftsteller und Poeten über die Jahrhunderte hinweg dem Zauber dieser Stadt verfielen von Casanova bis Thomas Mann, von Lord Byron bis Hermann Hesse, von Mark Twain bis Henry James und Ezra Pound, von Donna Leon bis John Berendt. John Berendt? Der amerikanische Erfolgs-Autor („Gut und Böse im Garten der Lüste“) hat mit seinem Venedig-Buch die amerikanischen Bestseller-Listen gestürmt. Jetzt ist es auch in Deutschland auf dem Markt und der Titel „Die Stadt der fallenden Engel“ wirft ein Schlaglicht auf die Probleme des heutigen Venedig: Verfall und Dekadenz bedrohen ein weltweit einzigartiges, lebendiges Gesamtkunstwerk.
John zeigte uns die Stadt, wie er sie erlebt hat: Das Venedig
hinter den Masken mit seinen „schattendunklen Nebenkanälen und
labyrinthischen Gassen“, das Provinznest, das sich masochistisch seinem
„pittoresken Niedergang“ hingibt, die Stadt der Spiegelungen, wo nichts
ist wie es scheint. Und er machte uns bekannt mit ihren Menschen: Mit
dem misanthropischen Conte Giovanni Volpi, dem Sohn von Mussolinis
Finanzminister, bekannt auch als „der letzte Doge von Venedig“, weil er
der Stadt nicht nur den Elektrischen Strom brachte sondern auch den
Industriehafen Marghera und die Biennale zu einem interdisziplinären
Festival aufwertete. Mit dem Maler Ludovico Luigi, der Venedigs Pracht
in monumentalen surrealen Bildern feiert. Mit Gino Seguso, dessen
Familie seit sechs Jahrhunderten in Murano die Kunst des Glasblasens
pflegt. Mit Franca Coin, der (aus Triest eingewanderten) Frau des
Kaufhauskönigs, die sich als Präsidentin der "Venice Foundation"
mit aller Macht gegen den Untergang der geliebten Stadt stemmt. Mit
Gudrun Kumas, der Schmuckdesignerin, die vor 37 Jahren aus der
Steiermark kam und blieb.Mehr noch als Deutschland ist Venedig auf
Zuwanderer angewiesen. Denn die Stadt blutet aus.
1951 lebten noch 174 000 Menschen hier, heute sind es gerade mal 55
000. „Die Stadt verliert 3000 Einwohner pro Jahr“, weiß Giovanni Volpi
und fügt gallig hinzu: "Die guten Venezianer sind tot und die jungen
ziehen weg." Der Conte sitzt im Garten seines Zweithauses auf der
Giudecca und macht kein Hehl aus seinen Vorbehalten gegen seine
Mitmenschen, die seiner Meinung nach die Verdienste seines Vaters nicht
genügend gewürdigt haben. Für ihn ist die Stadt eine Art „geschlossene
Gesellschaft“ und die ist umso schlimmer als die Venezianer „immer noch
in ihrer Vergangenheit leben“. Doch was ist aus der einst weltweit
agierenden Handelsstadt geworden? Volpis Stimme trieft vor Sarkasmus:
„Taubenfutter-Verkäufer auf dem Markusplatz. Krämerseelen. Die Stadt
verkommt zu einem Museum.“ Der Conte gefällt sich als
Klischee-Zertrümmerer und doch liebt er seine Stadt vor allem am Abend,
wenn die ungeliebten Touristen verschwunden sind und die Stadt wieder
aufatmet.
Nicht nur das (steigende) Meerwasser bedroht die Existenz Venedigs,
auch die Massen der Besucher, die Tag für Tag die Stadt überfluten,
sind eine Gefahr für das sensible ökologische Gleichgewicht in der
Lagune und für die bröckelnde Bausubstanz. 17 Millionen sind es pro
Jahr.
„Wir werden überrannt von Touristen, die uns nichts als ihren Müll
hinterlassen“, sagt Franca Coin bitter. „Der Canal Grande wird zur
Koake. Hat Venedig das verdient?“ Die Präsidenten der Stiftung „Save
Venice“ schaut aus ihrem Büro im Ca Rezzonico auf den Canal Grande und
sieht, dass der Stadt das Wasser bis zum Hals steht. Franca Coin
unterstützt das (umstrittene) Mose-Projekt (Modello sperimentale
elettromeccanico), nach dem gigantische Schleusentore Venedigs Lagune
zum Meer hin abschotten und der drohenden Erosion der vorgelagerten
natürlichen Sandbänke einen Riegel vorschieben sollen. Venedigs Lagune
ist Menschenwerk und schon seit Jahrhunderten führen die Zeit und die
Elemente einen Krieg gegen die Stadt zwischen Himmel und Wasser.
„Venedig sinkt nicht, aber das Wasser steigt“, erklärt Franca Coin.
Der Wasserspiegel liegt heute gut 23 Zentimeter höher als zu Anfang des
20. Jahrhunderts. Bei einem Pegelstand von 80 Zentimeter über Normal
Null ist der Markusplatz überschwemmt und das Aqua alta steht vor den
Türen der Palazzi. 40 Mal im Jahr ist das der Fall, der Schaden, den
das Salzwasser an den historischen Bauten anrichtet, ist unermesslich.
Dabei war der Boden der Stadt schon im 19. Jahrhundert höher gelegt
worden. Auch jetzt wird wieder aufgestockt, die vielen Baustellen
erzählen davon. Doch die ganze Stadt um 1.20 Meter höher zu legen,
würde 60 Jahre dauern. Also bleiben Dämme oder Schleusen gegen die
Flut. Die Zeit drängt. „Wenn wir Mose nicht schaffen, wird es keine
Projekte für Venedig mehr geben,“ sagt Franca Coin düster. Und doch
nützt sie die Zeit, um wenigstens Teile der Stadt zu retten – ihre
großartigen Museen und Kunstwerke. Erst kürzlich wurde mit
Stiftungsgeldern die Schöpfungskuppel in der Sankt Markus Basilika
restauriert. Coin will nichts weniger als „den Engeln wieder wieder
Flügel verleihen“. Kein leichtes Unterfangen in einer Stadt, in der
selbst die Tauben das Fliegen verlernt haben.
Die Hoffnung stirbt auch hier zuletzt. Hat sich nicht das Opernhaus La
Fenice getreu seinem Namen wie Phönix aus der Asche erhoben? Zweimal
ist es nieder gebrannt und zwei Mal schöner erstanden als es war. Vor
einem Jahr konnte die von Aldo Rossi konzipierte Kopie eingeweiht
werden. Gilberto Paggiaro, der 1996 als Wachmann Zeuge des Brandes
geworden war, der eines der schönsten Opernhäuser der Welt in Schutt
und Asche legte, hätte sich eine solche Wiederauferstehung nicht
träumen lassen. Bis heute verfolgt ihn das Feuer in seinen Träumen und
wenn er davon erzählt, glaubt man in seinen dunklen Augen eine
Reflexion der Brandglut zu sehen.
Archimede Seguso, der greise Glasbläser, hat seine Eindrücke in Glas
gegossen: Lodernde Flammen, Funkenregen, schwarzer Rauch. Die
Fenice-Kollektion des damals 86-Jährigen ist das Herz des
Ausstellungsraums, den Sohn Gino in Murano dem Vater gewidmet hat,
einem Meister der Glasbläserkunst, dessen schönste Stücke die Museen
dieser Welt zieren. „Mein Großvater war einfach genial“, sagt Enkel
Antonio. „Wir sind nicht so gut wie er war, auch wenn wir schon sehr
gut sind.“ Vater und Sohn leben die Tradition und 50 Mitarbeiter
helfen ihnen dabei, das alte Handwerk immer wieder neu zu erfinden.
Auch Gudrun Kosmus arbeitet „in Glas“. Die ehemalige Stewardess entwirft
dekorativen Schmuck und kommt seit 26 Jahren nicht von Venedig los,
obwohl sie es immer wieder versucht hat. Die Steiermärkerin ist der
Stadt verfallen und nimmt gerne in Kauf, dass sie nicht mit dem Auto
zum Supermarkt fahren kann, sondern ihre Einkäufe durch die engen
Gassen und über die Treppen in ihre Wohnung schleppen muss. Aber sie
hasst es, dass Bäckereien sich in Maskenläden verwandeln,
Lebensmittelhändler zu Souvenirverkäufern werden, dass die ganze Stadt
zu einem Erlebnispark für Touristen verkommt. Dabei könnte die Stadt,
deren Untergang immer wieder beschworen wird, Vorbild-Charakter haben.
In Punkto Sicherheit etwa. Weil die Fluchtwege begrenzt sind, sei
Venedig eine der sichersten Städte der Welt (auch wenn Commissario Brunetti seit 1991 alljährlich in einem neuen Mordfall ermittelt) – und kommunikativ, schwärmt Gudrun. Sie mag es, dass man sich über die engen Gassen hinweg von Fenster
zu Fenster unterhalten kann, dass sich die Fußgänger im Labyrinth der
Gassen immer wieder begegnen, dass auf dem Vaporetta „Abendkleid und
Arbeiteranzug“ nebeneinander sitzen. Sie mag das Zusammenspiel von
Vergangenheit und Gegenwart, das die Gondoliere leben, in der einen
Hand das Ruder, in der anderen das Handy. Sie mag die bröseligen
Palazzi und die grandiosen Museen, die quirligen Märkte und vor allem
die nächtliche Stadt, die schon Mark Twain pries: „Bei Mondlicht hüllen
die vierzehn Jahrhunderte ihrer Größe die Stadt in ihren Glorienschein,
und noch einmal ist sie die fürstlichste unter den Nationen der Erde.“