Im Grenzland: Die Zeit der Stinte von Artur Becker

Die Zeit der Stinte.
Autor: Artur Becker
Verlag: Dtv
Erschienen:März 2006

Die Stinte, das sind Fische, die nach dem Ablaichen auf Nimmerwiedersehen verschwinden und die ganze Arbeit ihren Sprösslingen überlassen, die es ihrerseits den Eltern nachtun. „Die Zeit der Stinte“ heißt die Novelle des gebürtigen Polen Artur Becker, in der er den deutsch-Polnischen Spätaussiedler Chrystian auf eine Reise in die Vergangenheit schickt. Am Ende hat sich der begeisterte Angler Chrystian benommen wie die Stinte und ist dahin zurückgekehrt, wo seine Eltern herkamen – um sich zu vergnügen.

Die Jüdin Mona Juchelka ist schuld daran, dass Chrystian – wenn auch
nur für kurze Zeit – heimkehrt an den Geserichsee und zu seinem Onkel
Erwin, der die Heimat nie verlassen hat. Er weiß nicht, was er da zu
finden hofft. Denn er hat sich hoffnungslos verrannt, die Ehe ist
kaputt, kein Job in Sicht und das Leben eine einzige Ödnis.
Da kommt Mona mit ihrem Wunsch, in Polen den Schauplatz einer
Hinrichtung zu sehen, gerade recht. Ihr Großvater hat das KZ Stutthof
überlebt, aber er hat das Gesicht hinter der Maschinerie nicht
vergessen. Mit Freunden kehrt er zurück an den Geserichsee, dorthin wo
Richard Schmidke ein Außenlager geführt hatte und wo er sich jetzt
versteckt. Das Opfer wird zum Henker. Und Mona Juchelka will 60 Jahre
danach den Schauplatz der Hinrichtung sehen, um die eigene
Familiengeschichte besser nachfühlen zu können. Auch Chrystian stammt
aus dieser Gegend, sein Großvater war damals Bauer – und Koch.
Auf der Reise in die eigene Geschichte verlieben sich Mona und
Chrystian. Doch während Chrystian sich wie ein Ertrinkender an dieses
neue Gefühl klammert, ahnt Mona, auf welch schwankendem Boden sie sich
befinden.

Artur Becker führt die Leser in ein Grenzland, nicht deutsch und nicht
polnisch. Und diesem Grenzland entspricht auch die Seelenlage der
Protagonisten, die noch nicht ganz angekommen sind in der Welt, in der
sie leben. „Du wünscht seinen Tod,“ sagt Chrystian zu sich selbst,
damit das Kapitel ‚Ilawa und die Brodds’ endlich geschlossen wird. Erst
wenn sie alle weggestorben sind, wirst du endlich frei sein. In deinem
Bremen. Dort sind Wege, die noch niemand aus deiner Sippe betreten hat,
von Geburt an. Boreas ist der erste Brodd, der nirgendwohin
zurückkehren muss. Er kann aufwachsen … mit der Gewissheit, dass keine
Aufgaben unerledigt bleiben – für immer."

Mona weiß es anders, der Mensch trägt immer seine Vergangenheit und die
Geschichte seiner Familie mit sich, wo er auch ist. Er wird sie nicht
los. Becker, der erst mit 16 Jahren deutsch gelernt hat, erweist sich
wieder einmal als literarischer Grenzgänger zwischen Ost und West mit
einem sicheren Gespür für sprachliche Nuancen.

Artur Becker, Die Zeit der Stinte, dtv premium, 199 S., 14 €

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