„Fahren Sie mit uns nach Bologna?“ fragt der Zugbegleiter freundlich und beäugt neugierig den schweren Koffer, den ich hinter mir her ziehe. Bologna? Wäre auch ein schönes Ziel. Aber nein, ich fahre nur bis Franzensfeste mit. Dann steige ich um in den Regionalzug nach Bruneck im schönen Pustertal. Von dort aus fährt ein Zug direkt nach Percha/Ried. Das ist mein Ziel, denn von hier hat man einen direkten Zugang zur Gondelbahn auf den Kronplatz. Deshalb auch ist mein Koffer so schwer, denn die Skischuhe und den Helm habe ich eingepackt.
Aber heute bleibe ich erst einmal in Bruneck, quartiere mich im Herzen der Stadt im traditionsreichen Hotel Post ein und bummle durch das Städtchen im Winterkleid bis hinauf zum Schloss Bruneck, wo Reinhold Messner sein fünftes Messner Mountain Museum eingerichtet hat, das MMM Ripa, den Bergvölkern gewidmet. Hier im Schloss, das einst Bischof Bruno von Brixen aus Sommerresidenz diente, kann man über die Stockwerke durch verschiedene Kontinente reisen.
Von der typischen Südtiroler Rauchkuchl geht es mitten hinein in eine andere Welt, nach Tibet. Bergsteiger-Legende Messner hat wunderschöne Exponate zusammengetragen, Skulpturen aus Afrika und Asien, Wandbehänge, geschnitzte Betten und – vor allem Türen: „Türen erzählen Geschichten, von Mythen, Geheimnissen und Ängsten der Menschen hinter den Türen“, heißt es auf einer Tafel. „Sie zeugen vom Stolz, der Handwerkskunst und der Gastfreundschaft der Menschen. Türen sind der Schlüssel zur Kultur eines jeden Bergvolks. Im MMM Ripa öffnen sich Türen zu 20 Bergkulturen aus allen fünf Kontinenten.“
Und hinter dem Profanen, dem für den Alltag Nötigen, hat der Ausstellungsmacher das entdeckt, was er als „beseelte Welt“ bezeichnet und was für ihn zum Bergmenschen (Ripa) gehört wie die Luft zum Atmen. In Bruneck hat der Meister der Spätgotik, Michael Pacher, dieser „beseelten Welt“ Ausdruck verliehen – eines seiner bekanntesten Werke ist der Flügelaltar in St. Wolfgang am Wolfgangsee. In Bruneck selbst erinnert das Kruzifix in der Pfarrkirche an den großen Sohn und im nahen St. Lorenzen ist vom Altar noch die „Madonna mit dem Jesuskind mit der Traube“ zu sehen.
Doch die schöne Unterstadt Brunecks sieht noch(fast)so aus wie sie zu Lebzeiten des Künstlers ausgesehen haben könnte. Die Häuser auf beiden Seiten der autofreien Stadtgasse zwischen dem Ursulinen- und dem Ragentor, manche spitzgiebelig, andere mit Zinnen bewehrt, atmen Geschichte.
Und doch ist diese Gasse alles andere als museal. Dafür sorgen schon die einladenden Geschäfte. Wäre mein Koffer nicht schon voll, würde ich hier gerne einkaufen. Das dunkle Batzen-Bier, das mit einer Goldmedaille ausgezeichnet wurde, im Feinkostgeschäft Harpf zum Beispiel und dazu ein paar der delikaten Antipasti. Oder in der Pasticceria Fiori Acherer, wo sich Blumengestecke zu Kunstwerken aus Schokolade gesellen, eine der appetitlichen Torten. Ach, es gäbe so viel, was ich gerne mitnehmen würde aus dieser kleinen Stadt.
Aber ich bin ja nicht zum Einkaufen gekommen, sondern zum Skifahren. Am nächsten Tag strahlt die Sonne vom wolkenlos blauen Himmel, ein Wintertag zum Verlieben.
Der Weg zum Bahnhof ist kurz und ohne großes Gepäck auch mühelos. Da macht es auch nichts aus, dass man nur über Treppen zum Bahnsteig gelangt – mit dem schweren Koffer sind diese Treppen allerdings eine echte Herausforderung. Doch daran will ich jetzt nicht denken, ich genieße die kurze Fahrt, schaue aus dem Fenster in eine winterweiße Wunderwelt. Ich bin auch nicht allein im Ski-Outfit. Es scheint sich herumgesprochen zu haben, dass man in Ried ganz unproblematisch vom Zug in die Gondel und von der Schiene auf die Piste kommt. „Genial“ sei das, sagt ein Augsburger, den ich beim Aussteigen treffe. Seine Töchter nicken dazu. Sie haben ihre Skier im klimatisierten Depot am Bahnhof, ganz kommod.
Maximal 600 Paar Ski könne man hier unterbringen, erklärt Christian Erroi, Direktor der Kronplatz Seilbahn AG. Der kleine Mann mit den dunklen lockigen Haaren und den blauen Augen ist sichtlich stolz auf das, was hier am Bahnhof entstanden ist. 25 Millionen wurden investiert in Gondelbahn, Gebäude, Piste und Beschneiung. Für Erroi ist der Einstieg über die Bahn auch eine Maßnahme zur Verkehrsberuhigung im vor allen an den Wochenenden überlasteten Reischach. „Zehn bis zwölf Prozent der Ersteinstiege“ schätzt er, „konnten wir hierher verlagern“. An Spitzentagen nutzten mehr als 1000 Skifahrer die Gondel, die im Endausbau mit einer Kapazität von 3500 pro Stunde „noch viel Luft nach oben“ habe.
Ein bisschen trauert Erroi dem Projekt nach, die neue, sieben Kilometer lange Piste bis zum Bahnhof auszubauen. Wegen der strengen Umweltauflagen wäre eine – teure – Hängebrücken-Konstruktion nötig gewesen. So habe man zur preiswerteren Lösung gegriffen und einen kurzen Verbindungslift gebaut. Auch in Sexten setze man auf die Verbindung Bahn – Skilift. Schon in den nächsten Jahren werde man auf der Schiene von Ried nach Vierschach fahren und auch dort ins Hochpustertaler Skigebiet einsteigen können – und das mit einem Skipass und im Halbstundentakt.
Der Kronplatz aber wartet schon im nächsten Jahr mit einer neuen Attraktion auf, dem MMM Corones. Stararchitektin Zaha Hadid hat für Reinhold Messner auf dem Gipfel von Südtirols erfolgreichstem Skiberg einen Bau konzipiert, der sich mehr unter als auf der Erde befindet. Das neue Museum, hofft der Seilbahn-Direktor, könnte auch Nicht-Skifahrer auf den Kronplatz bringen und den Sommertourismus beflügeln. Reinhold Messner will in diesem, seinem letzten Museum erzählen, wie die Annäherung der Menschen an die Berge begonnen hat. „Wir Südtiroler leben zu einem ordentlichen Teil vom Skitourismus“, räumte er in einem Interview ein. Deshalb hat der frühere EU-Abgeordnete der Grünen und entschiedene Gegner einer intensiven Erschließung der Berge sich auch nicht den Kritikern angeschlossen, die gegen die neue Piste am Kronplatz zu Felde zogen. Die Pisten, so Messner, seien „so konstruiert, dass sie verantwortet werden könnten“. Und er sei glücklich über den Platz und den Namen: „Corones wird den Messner Mountain Museen die Krone aufsetzen.“
So lang will ich nicht warten. Mich zieht’s hinauf auf den Berg. Im Skiverleih hole ich mir ein Paar „Top-Ski“ – und los geht’s. Der oben runde Kronplatz ist ein Berg, an dem man sich kaum verirren kann. Alle Bahnen führen nach oben. Dorthin, wo auf 2275 Metern Höhe die Friedensglocke steht, ein 18,1 Tonnen-Schwergewicht, das mittags um 12 Uhr läutet und immer dann, wenn in einem Land die Todesstrafe abgeschafft wurde oder ein Krieg zu Ende ist.
31 Lifte schaufeln Wintersportler aufs Plateau, wo neben der Friedensglocke auch ein Gipfelrestaurant, eine kleine Kapelle und ein Handymast stehen – und bald eben auch das MMM Corones. In alle Richtungen führen Pisten ins Tal, an der Ost- und der Südseite eher sanft geneigt, auf der Nordseite steiler und bissiger, eher etwas für Könner. Doch an diesem schönen Wintertag will ich vor allem genießen: Den Panoramablick vom runden Gipfel bis hin zu den Zillertalern und hinein in die Dolomitenzacken. Den Tanz über die leichten bis mittelschweren Pisten. Die gemütlichen Hütten, die Tiroler Knödelvariationen. Es wird ein perfekter Tag, auch wenn mich bei einer Abfahrt eine perfide Eisplatte zu Fall bringt. Ich fahre kreuz und quer, hinunter nach St. Vigil, hinüber in Richtung Olang und schließlich die sieben roten Kilometer hinunter nach Ried. Die Ski und ich haben gut zusammengepasst. Aber am Abend müssen wir uns trennen. In den Zug zurück nach Hause will ich sie lieber nicht mitnehmen. Da reicht mir schon mein schwerer Koffer.
Ich würde schon wieder „in einem Zug ins Skigebiet“ fahren – ohne Stau und ohne Stress. Aber das nächste Mal, nehme ich mir vor, lasse ich auch die Skistiefel daheim. Dann kann ich noch ein paar Schmankerln aus Bruneck in den Koffer packen…