1992 war der Lufthansa-Kapitän schon einmal in Jeddah. Als er jetzt – 20 Jahre später – zur Landung in der saudi-arabischen Wirtschaftsmetropole ansetzt, traut Martin Höll seinen Augen kaum. Die riesige Stadt – allein der Flughafen umfasst 105 Quadratkilometer – leuchtet wie ein nächtlicher Himmel voller Sterne. Rot-weiße Lichterketten markieren die zehn- bis zwölfspurigen Autobahnen. Jeddah hat in den vergangenen 20 Jahren alle Grenzen gesprengt, 80 Kilometer lang dehnt sich die Stadt an der Küste aus, 3,5 Millionen Einwohner leben hier. Kein Vergleich zu der Stadt, die Höll vor 20 Jahren erlebte.
Damals, erinnert er sich, war Jeddah eine kleine Stadt „ohne Frauen“. Zumindest bekam er keine zu Gesicht – auch nicht im Souk, wo Männer lebhaft über Höschen und Büstenhalter diskutierten. Heute ist Einkaufen die wohl beliebteste Freizeitbeschäftigung für die Frauen in den bodenlangen schwarzen Abayas. Und Victoria’s Secret mit den frechen Dessous ist eines der populärsten Geschäfte in den eleganten Malls, die oft bis Mitternacht geöffnet sind – aber nicht während der Gebetszeiten. Unter extravaganten Dachkonstruktionen plätschern hier Wasserfälle, blühen Blumen, lädt eine Eisbahn zum Schlittschuhfahren ein und die teuersten Designerlabels zum Kaufen. An der rund 25 Kilometer langen Corniche, der Prachtstraße entlang der Küste, reihen sich Traumvillen an supermoderne Türme aus Stahl und Glas, zwischen extravaganten Geschäften und luxuriösen Restaurants klaffen wüstenartige Baulücken. Jeddah, geprägt von einem Nebeneinander orientalischer Prachtentfaltung und gesichtsloser Bebauung, wächst und wächst. In nur 20 Jahren hat sich die Stadt vom Mittelalter in die Neuzeit katapultiert. Die USA lassen grüßen mit McDonalds, Kentucky Fried Chicken, Pizza Hut und Starbucks, Europa steuert Ikea bei.
Natürlich ist die Mall das größte Einkaufszentrum der Welt. Der größte Staat der arabischen Halbinsel will sich weder von Europa noch von den Emiraten etwas vormachen lassen. Man baut auf Superlative. Deshalb ist auch die Fontäne an der Corniche mit 260 Metern die höchste der Welt und damit gut sechs Mal so hoch wie ihr Vorbild im Genfer See. Und seit 2011 wächst der Kingdom Tower an der Uferstraße in die Höhe. Nichts weniger als der erste vertikale Kilometer soll er werden und damit den Burj Khalifa im Emirat Dubai in den Schatten stellen. Die Binladen Baugesellschaft, die vom Vater Osama Bin Ladens gegründet worden war, baut an diesem Prestigeobjekt, das wie eine Nadel in den Himmel über Jeddah stechen soll. Die Gruppe ist auch für den Aus- und Umbau des Flughafens verantwortlich. Fünf Milliarden Euro werden dafür veranschlagt. Geld spielt keine Rolle im Reich der Ölscheichs. Im Land mit den größten Erdölexporten der Welt ist Benzin mit gerade mal zehn Cent pro Liter deutlich billiger als Wasser. Gespart wird an nichts – solange die islamischen Regeln eingehalten werden.
Deutsche Firmen sind an vielen Infrastruktur-Maßnahmen beteiligt: Die Deutsche Bahn hilft beim Aufbau eines landesweiten Schienennetzes, Siemens bei der Meerwasserentsalzung, Thyssen-Krupp bei der Fassadenverkleidung. Die baden-württembergische Herrenknecht AG und die Bauer AG sind am Flughafen engagiert. Für den deutschen Verkehrsminister Dr. Peter Ramsauer ist Saudi Arabien einer der wichtigsten Handelspartner, und der deutsche Außenminister will die Visa-Regeln vereinfachen. Von so viel enger Partnerschaft verspricht sich auch Lufthansa ein gutes Geschäft. Helmut Wölfel, Vice President Commercial Hub München, freut sich darüber, dass von Jeddah aus nun auch die bayerische Landeshauptstadt im Flug zu erreichen ist. Die 221 Sitzplätze der A 380-300 sollen Geschäftsreisende ebenso füllen wie Studenten, Patienten und – natürlich Pilger. „Wir stellen uns auf diese Passagiere ein“, sagt Wölfel, „auch mit Halal-Essen“, Speisen, die nach islamischer Glaubensauslegung erlaubt sind. Denn Jeddah ist das Tor zu Mekka. Vor allem zur Hadsch, der großen Pilgerreise, bestimmen die in weiße Tücher gehüllten Pilger und schwarz verschleierte Frauen das Bild.
Auch auf diesem Flug von München über Riad nach Jeddah sind halbnackte Männer in weißen Pilger-Tüchern mit Flip Flops an den Füßen dabei, Umrah-Pilger. Vor Sonnenuntergang drängen sie sich vor den WC, weil sie sich noch waschen wollen. Die Frage, wo Mekka liegt, kann Martin Höll aus der Erinnerung beantworten: „Geradeaus vor uns“. Auf dem gigantischen King Abdul Aziz International Airport haben die Pilger ihr eigenes Terminal. Man trennt gerne in Saudi Arabien – auch die Geschlechter.
In den Restaurants gibt es gesonderte Single Abteilungen, wo die Männer unter sich sind. Frauen dürfen sich nur im Family Sektor aufhalten. Und bis heute dürfen sie nicht Auto fahren. Die strikte Geschlechtertrennung erschwert es den oft gut ausgebildeten Frauen, einen adäquaten Beruf zu finden. Sammar, Marketingleiterin des Sheraton Hotels an der Corniche, ist da eine Ausnahme. Die selbstbewusste 27-Jährige hat in England studiert und ist Single. So zu leben wie sie sei nicht immer einfach, sagt sie leichthin. Nach wie vor wohnt sie bei den „sehr liberalen“ Eltern. Dass Frauen allein leben, wird in Saudi Arabien nicht akzeptiert. Mit einer Kollegin teilt Sammar sich einen Chauffeur. Mehr Bewegungsfreiheit geht nicht. Und viele Frauen wollen auch nicht mehr.
Amira Mashat könnte Sammars Mutter sein. Im langen bunten Kleid mit sonnengelbem Kopftuch empfängt sie in ihrem Heim, das als „Haus der Begegnung“ Geschichte geschrieben hat. Der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter war auf seiner Friedensmission zwei Mal Gast von Dr. Sami Angawi, Amiras Mann, einem saudischen Architekten, der unter anderem bei Frei Otto studiert hat. In Jeddah setzt sich Dr. Angawi für den Erhalt der traditionellen Bauten ein. In seinem eigenen Haus gehen die verschiedenen orientalischen Baustile eine harmonische Verbindung ein. Die Dame des Hauses hat bei der Gestaltung Hand angelegt. Das spürt man. In den öffentlichen Bereichen rund um den Indoor-Pool wuchert Grün, dicke Diwans laden zum Verweilen ein, Antiquitäten schaffen Atmosphäre, nach allen Richtungen öffnen sich reizvolle Durchblicke. Die Hausherrin lässt Tee und Süßigkeiten servieren und gibt Auskunft – wenn sie nicht gerade am Handy telefoniert. Amira hat Innenarchitektur studiert, fünf Kinder groß gezogen und sieht ihr Haus als „Experiment, als work in progress“. Sie öffnet ihr Heim, auch um Gästen aus aller Welt zu zeigen, wie man auch heute noch traditionell leben kann. Fünf Angestellte entlasten die Dame des Hauses von ihren häuslichen Pflichten – allesamt Gastarbeiter aus Asien.
Das Angawi-Haus steht in einem der vielen Villenviertel der 1500 Quadratmeter großen Stadt. Der Gegensatz zu der bröckelnden Altstadt, die scheinbar noch im Mittelalter verharrt, könnte nicht größer sein. Sami Saleh Nawar ist Manager dieses geschichtsträchtigen Zentrums, das sich bei der Unesco als Weltkulturerbe bewirbt. Der kleine Mann mit der rot-weiß-karierten Kufiya auf dem Kopf und der bodenlangen weißen Dischdascha hat ein bescheidenes Büro in einem der alten Häuser mit kunstvoll geschnitzten Balkonen. Im Sauseschritt durcheilt Sami bei einem kleinen Rundgang mehr als 1400 Jahre Geschichte. Nicht nur das Tor zu Mekka sei Jeddah, sagt er und lächelt listig, sondern eine Stadt der Frauen. Hier liege Eva begraben und den Namen Jeddah könne man mit „Großmutter“ übersetzen.
Ein Lichtblick inmitten bröckelnder Fassaden und verrottender Balkone ist das Nassif Haus, das König Abdul Ibn Saud als Zuhause diente, als er 1925 als Eroberer in die Stadt einzog. Heute ist das Haus ein Kulturzentrum. Von der Dachterrasse hat man einen grandiosen Blick auf die Altstadt. Am späten Nachmittag taucht die untergehende Sonne die pockennarbigen Fassaden in ein mildes Licht. Ein Muezzin ruft vom nahe gelegenen Minarett, dann noch einer und noch einer, bis sich die Rufe von allen vier Himmelsrichtungen zu einem vielstimmigen Kanon vereinigen. Orient pur. Auch zu Füßen dieses historischen Hauses. Händler schieben ihre mit Süßigkeiten, Turnschuhen oder T-Shirts beladenen Karren durch die engen Gassen, andere lehnen müßig vor ihren Läden mit Mädchenkleidern aus Tüll und Spitze. Männer in blütenweißen Dischdaschas schlendern schwatzend über den Platz, verwilderte Katzen balgen sich um Müll, Tauben nisten auf verlassenen Balkonen. Dazwischen ein paar Frauen in Abayas.
Rund 50 Häuser der Altstadt gelten als besonders schützenswert, sagt Mohammed Al-Amiri, Manager in der Makkah Region, zu der Jeddah gehört. Die Eigentümer sollen Geld vom Denkmalschutz bekommen, um die baufälligen Häuser zu restaurieren. Spätestens in drei Jahren, verspricht der Manager, soll Alt-Jeddah „ganz anders aussehen als heute“. Der Wind der Veränderung, der seit dem arabischen Frühling im Nahen Osten weht, hat auch Saudi Arabien gestreift – als lindes Lüftchen.
Der derzeitige König Abdullah bin Abdul-Aziz Al Saud (88) gilt als „liberal“ und will die Weichen für die Zukunft stellen. Er hat die Wirtschaft angeschoben und engagiert sich für mehr Bildung im eigenen Land. Aushängeschild ist die hypermoderne King Abdullah University oft Science and Technology, wo – gerade mal eine Autostunde von Jeddah entfernt – Studentinnen und Studenten aus aller Welt gemeinsam studieren und Forscher von Weltruf arbeiten – eine Oase des freiheitlichen Denkens mitten in der Wüste.
Womöglich befördert Martin Höll auf dem Rückflug nach München auch Studenten dieser Universität. Für Saudis, die in Deutschland studiert haben und sich dem Land verbunden fühlen wie Dr. Abdullah al-Wasiah sind die neuen Lufthansa-Flüge eine gute Gelegenheit, mal wieder ins Land ihrer Sehnsucht zu reisen. Der Urologe liebt die deutsche Sprache, lobt das Goethe-Institut, wo er fließend Deutsch gelernt hat und schaut jeden Tag deutsches Fernsehen. Auch sein Sohn hat in Deutschland studiert. So wie viele Söhne und Töchter seiner Freunde und Kollegen. Solch enge Bindungen freuen natürlich den deutschen Botschafter in Jeddah, Dr. Rolf Schuster. Das Generalkonsulat wirbt auf seiner website schließlich nicht nur für den Wirtschafts- sondern auch für den Studienstandort Deutschland.