Antonio ist ein „endemischer Zypriote“, sagt Wanderführerin Ismini, so typisch für die Insel wie die zypriotische Stachelmaus. Der Mittvierziger mit dem runden Gesicht und dem ebenso runden Bauch, ein Schlitzohr und Muttersöhnchen, frisch verheiratet, kennt jeden Berg auf der mit 9251 Quadratkilometer drittgrößten Insel im Mittelmeer, und er weiß, was die etwa 800 000 griechischen Zyprioten bewegt. Die Griechenland-Krise: „Die sollten auch mal die Ärmel hochkrempeln und ihren Stall ausmisten“. Die Teilung der Insel in die südliche Republik Zypern und den unter türkischer Kontrolle stehenden Nordteil.„An eine Wiedervereinigung glaube ich nicht, solange die Türken im Norden bestimmen.“ Die britischen Militärbasen: „Die Engländer werden uns wohl erhalten bleiben. Die können doch gar nicht auf ihre Stützpunkte auf den Troodos-Gipfeln verzichten.“ Und natürlich auch Klatsch und Tratsch. Den lieben die Zyprioten wie alle Welt.
Über Theophanis Pilavakis, den zypriotischen Modedesigner, der in
England ein Vermögen gemacht hat wie viele Zyprioten die in den 1950er
Jahren auswanderten, gibt es viele Gerüchte. „Erotische Eskapaden“,
murmelt Antonio verschwörerisch, hätte der alte Mann hinter sich. Mit
einer Finnin sei der vierfache Vater zusammen gewesen und jetzt mit
einer Russin verheiratet – und Russinnen, weiß Antonio, „bringen das
Blut der Männer in Wallung“. Heute ist der sagenhafte Theophanis 88
Jahre alt, flink wie ein Wiesel und schaut aus blauen Augen noch immer
unternehmungslustig in die Welt (und auf die Frauen). Seit 30 Jahren ist
der gelernte Schneider zurück auf seiner Insel, wo er seine erste Frau
nach ihrem Krebstod begraben hat. In Phini, dem Dorf der Töpfer am Fuß des
Troodos-Gebirges, hat er dann im 400 Jahre alten Haus der Familie eine
Art Heimatmuseum eingerichtet – mit altem Handwerksgerät,
Alltagsgegenständen aus alter Zeit und Töpferwaren.
Am auffallendsten sind die riesigen Amphoren, in denen die Frauen des
Dorfes früher nach einer Geburt schwitzen durften, ehe sie mit Olivenöl
massiert und mit Binden umwickelt wurden, bis sie wieder „eine schöne
Figur hatten und fertig waren fürs nächste Baby“ (Antonio). Die Frauen
saßen auf einem Stühlchen in der aufgeheizten Amphore und behielten bei
der ganzen Sache einen kühlen Kopf, weil der oben rausschaute. Ja, ja,
seine Mutter, hätte das auch so gemacht, bestätigt der Museumsgründer
und lädt eine junge Frau ein, in die Amphore zu steigen. Bei der
anschließenden Wickeldemonstration legt er nur allzu gerne Hand an.
Wie er so jung geblieben ist? Der Alte lacht, dass seine Augen in den
Fältchen verschwinden. „Keine Zigaretten, kein Alkohol, nur Frauen“,
verrät er augenzwinkernd und deklamiert sein Credo: „Wer keine Blumen
liebt, keine Frauen und keine Kinder, der hat kein Herz.“ Theophanis,
soviel ist sicher, hat ein großes Herz. Die Erlöse seines Museums gehen
das Krebskrankenhaus in Nikosia.
Phini ist mit seinen engen Gassen und den orthodoxen Kirchen ein
typisches Dorf am Rand des Troodos-Gebirges. Wer hier in den Bergen
wandert, lernt nicht nur interessante Menschen kennen wie Theophanis,
sondern auch die Natur und vielleicht auch einige der 123 Pflanzen, die
auf Zypern so „endemisch“ sind wie Antonio oder die Stachelmaus. Die
rote Tulipa Zyprium freilich blüht nur eine Woche lang – im Frühling.
Aber jetzt im Herbst leuchten die Blätter der Goldeiche in der tief
stehenden Sonne und spiegeln sich eitel im ruhigen Wasser des Kryos
Potamos, des kalten Flusses. Vögel zwitschern, es raschelt im Laub. Eine
Stachelmaus?
Bei ihrem Aufstieg müssen die Wanderer immer wieder den Bach überqueren,
wobei sich so mancher nasse Füsse holt. Und das, obwohl Antonio wie ein
Fels in der Brandung steht, um seiner Gruppe über den Bach zu helfen.
Auch Ismini Karapanu nimmt Zaudernde an der Hand. Die schmale Frau mit den langen
dunklen Haaren, die wie ein junges Mädchen wirkt und sich kurz Mini
nennt, ist kräftiger als der Name suggeriert. Tänzerin war die in
Dresden geborene Tochter griechischer Emigranten in ihrem früheren Leben
– auch an der Oper in Berlin. Wegen Hüftproblemen stieg sie aufs
Wandern um; auf Zypern lernte sie ihren Mann kennen – und blieb.
Natürlich liebt sie auch „seine“ Insel, aber Deutschland bleibt ihre
Heimat. „Mindestens viermal im Jahr muss ich zurück“, sagt die Mutter
zweier Töchter – und der leicht singende Tonfall verrät die Sächsin.
Jetzt im Winter hat sie Pause, Zeit für ihre Familie und dafür, „mir
meine Dosis Kultur in Deutschland zu holen“. Ab März beginnt die
Wandersaison auf Zypern. Dann ist Mini wieder auf den Beinen, oft zehn
Stunden am Tag. Ein Paar Wanderschuhe läuft sie so im Jahr ab. Die
jetzigen sehen schon ziemlich schäbig aus. Höchste Zeit für die
Winterpause.
Von weitem schon ist das Plätschern des kaledonischen Wasserfalls zu
hören, der sich über eine steile Felswand über 15 Meter in die Tiefe
ergießt. Steintreppen führen weiter nach oben, hinauf in das
Ferienörtchen Troodos mit seinen „Beamtenhäusern“. Hier können
Staatsbeamte – und nur sie – alljährlich für wenig Geld eine Woche
Urlaub machen. Normalbürger müssen im Hotel absteigen. Ganz hinauf zum
aussichtsreichen Gipfel darf niemand: Dort oben in der Sperrzone thronen
die Briten und richten ihre Lauschohren übers Mittelmeer ins 95
Kilometer entfernte Syrien oder auch in die Türkei, die gerade mal 68
Kilometer weit weg ist. Vielleicht leisten ihnen ja auch die
Stachelmäuse Gesellschaft und lassen sich deshalb nicht blicken.
Auch vom Weg aus, der sich breit und fast eben um den Berghang windet,
schweift der Blick weit über die grünen Hügel der Insel bis zum blauen
Meer, dem Aphrodite – schaumgeboren – entstiegen sein soll. Die Göttin
der Liebe ist den Zyprioten denn auch die liebste aller Göttinnen.
„Insel der Aphrodite“ nennen sie stolz ihre Heimat. Auf dieser Insel
musste doch der alte Theophanes eine neue Liebe finden, musste sich Mini
verlieben und Antonio doch noch die Frau fürs Leben finden. Womöglich
stimmt sie ihrem „endemischen Zyprioten“ auch aus ganzem Herzen zu, wenn
er sagt: „Ein Mensch ohne Bauch ist wie ein Himmel ohne Sterne.“ Oder
Zypern ohne seine Stachelmäuse?