Der Bahnhof ist groß und neu – und leer. Eigentlich eher ein Terminal. Und so wie ein Flughafen steht er irgendwo in der Landschaft weit weg von der nächsten Stadt. Womöglich ist unser Zug heute der einzige, der hier ankommt und abfährt. Dafür erwartet uns auch ein „großer Bahnhof“ zum Willkommen: Frauen in bunter Nomadenkleidung, Musikanten, ein Tisch mit Obst und Gemüse aus der Gegend.
Wir sind unterwegs im Iran auf historischen Gleisen. Unter dem Motto „1001 Nacht“ fährt der türkische Zug auf den Spuren der von deutschen Ingenieuren konzipierten Bagdadbahn von Teheran nach Istanbul.
Ein Abenteuer nicht nur für Bahnfans. Auf den alten Gleisen rattert und ruckelt der Zug, manchmal knirscht es auch, und hin und wieder, vor allem nachts in meinem Stockbett, habe ich das Gefühl, der Zug lasse die Gleise hinter sich wie der Hogwarts Express bei Harry Potter. Morgens sehe ich vom Bett aus, wie die Sonne über dem persischen Hochland aufgeht, wie sich die kargen Hochebenen aus der Dämmerung schälen. Wieder ein Bahnhof im Nirgendwo, zwei Hunde, ein paar Ruinen, Feldwege, die scheinbar ins nichts führen. Dann plötzlich ein Wasserbecken, Felder, Gewächshäuser. Ein kleiner Ort mit hingewürfelten Häusern, eine Ziegenherde. Zum Frühstück im Speisewagen gibt’s Landschaft satt. Zwischendurch auch ein paar Menschen – fröhlich winkend. Und später eine Lektion in altpersischer Geschichte.
Es ist eine behutsame Annäherung an ein Land, das sich erst allmählich wieder öffnet und dessen Bewohner auf den Ansturm von Touristen auf aller Welt noch immer mit Erstaunen reagieren. Wie die drei Malschülerinnen im Paradiesgarten von Shiraz. Perfekt geschminkte Gesichter unter dem schwarzen Kopftuch, das gerade mal die hinteren Haare bedeckt, lackierte Fingernägel, enge Hosen. Lachend setzen sie sich für die Fotografen in Pose und bereitwillig schreibt mir Zarah ihre Mailadresse auf. Oder die zwei Nomadenfrauen am Bahnhof von Pasargad, die zum bunten Empfangskomitee gehören. Sie wollen unbedingt aufs Foto, am besten mit der Besucherin. Oder die Kinder beim Kindergartenausflug in Isfahan, die uns unverhohlen anstarren und kichernd kommentieren, was sie da sehen.
Auch für uns Touristen ist vieles unerwartet: Dass Pärchen Hände haltend bummeln, dass Familien am Straßenrand picknicken, dass Handys allgegenwärtig sind und alkoholfreies Bier eines der beliebtesten Getränke ist. Die Menschen begegnen uns überall mit freundlicher Neugier, wollen wissen, wie uns ihr Land gefällt und freuen sich über jedes Lob.
Und das ist ehrlich. Denn dieses alte Land hat eine große Geschichte. Das Reich der Perser war einmal eines der ersten Weltreiche. Über 2500 Jahre ist es her, dass Darius der Große dieses Reich regierte und mit Persepolis eine grandiose Palaststadt errichtete. Zwar hat Alexander der Große die Stadt auf seinem Eroberungsfeldzug weitgehend zerstört, aber die Ruinen der Paläste und der imposanten Empfangshalle mit den fein ziselierten Reliefs lassen bis heute die vergangene Größe ahnen. Unter dem mächtigen Tor aller Länder stellen sich ganze Familien für ein Foto auf, auf der gewaltigen Freitreppe sitzen erschöpfte Touristen und blättern in ihren Reiseführern.
Das hier ist geschichtsträchtiger Boden: Nicht weit entfernt sind die vier Königsgräber von Naqsch-e Rostam, die mit ihren Szenen aus der Geschichte einen allumfassenden Machtanspruch dokumentieren. Mich erinnern sie ein wenig an das Schatzhaus in Petra. Und dann natürlich Pasargad oder Pasargadae, einst Hauptstadt von Cyrus dem Großen und heute wie Persepolis Unesco Weltkulturerbe. Von den einstigen Palästen sind nur noch Bruchstücke erhalten, Reste von Reliefs und eines Bewässerungsgrabens. Groß aber das Grab des Herrschers mit der Inschrift: „Oh Mensch, wenn du kommst und du wirst kommen, bedenke, ich bin Cyrus, der Begründer des achämenidischen Reiches. Neide mir nicht das bisschen Erde, das meinen Körper bedeckt“. Shapoor diktiert mir den Spruch, als wir auf dem Tall-e Takht, einer Festungsterrasse, stehen und hinunterschauen auf die Ruinenfelder. Shapoor hat in Frankfurt Chemie studiert und wurde bei seiner Rückkehr in die Heimat Reiseführer, weil er in seinem Beruf keine Chance sah. „Ich wollte, ich hätte Archäologie studiert“, sagt der 53-Jährige mit dem grauen Bart jetzt zu mir, „mein Land birgt so viele Schätze.“
Wohl wahr. Wir haben zu tun, dass wir nur einen Bruchteil dieser Schätze sehen.
Shiraz mit seinen Gärten und dem Grabmal des von Goethe hochverehrten Dichters Hafis. Der Perser, der den Koran auswendig konnte und in seinen Gedichten die Liebe besang – und den im Islam verbotenen Wein – macht es den iranischen Interpreten nicht immer leicht und so setzt Shapoor Hafis‘ Lob der Trunkenheit einfach mit Weltvergessenheit gleich. Über des Dichters Lob der Schönheit brauchen wir dagegen nicht zu diskutieren.
Schönheit umgibt uns auch in Isfahan mit dem großartigen Platz des Imams. Himmelwärts ragen die schlanken Minarette der Königsmoschee, des Himmels Blau spiegeln die Kuppeln mit ihren fantastischen Mosaiken. In den Arkaden bieten Händler Handarbeiten an, bedruckte Stoffe, handgewebte Teppiche, Miniaturen und alle Gewürze des Orients. Rund um den Platz jagen Pferdekutschen grad als wär’s die Hofburg in Wien. Noch anregender als dieses Aushängeschild Isfahans finde ich die ältere Jame-Moschee, die ganz ohne Mosaik-Verkleidung ihre schöne Backstein-Architektur präsentiert und eine Gebetsnische mit filigranem Stuck.
Es sind fast zu viele Eindrücke, die ich täglich mit in mein Zugabteil nehme. Und wenn ich hinaus schaue auf das karge Land mit den grünen Feldstreifen und den ärmlichen Dörfern, auf verfallene Bauernhöfe und riesige Schafherden, dann lasse ich die Erlebnisse des Tages Revue passieren. Die Begegnung mit einem Armenier in der armenischen Vank Kathedrale, wo wir die farbenfrohen Fresken bestaunten. Vielleicht, sagte er ganz leidenschaftslos, werde es in ein paar Jahren kaum mehr Armenier in der Stadt geben. „Die Jungen gehen und die Alten folgen ihnen.“ Auch er werde bald nicht mehr da sein. Er warte nur noch auf das Visum. Das Gespräch mit den zwei jungen Männern aus Afghanistan, die illegal in der Stadt geradeso überleben und trotz allem nicht mehr zurück wollen in ihr Land. Oder der alte Professor, der von der deutsch-iranischen Geschichte schwärmt und flüstert „Unter dem Shah war alles besser.“ Was soll man glauben in diesem Land, in dem unter Präsident Hassan Ruhani ein Hauch Liberalität weht und wo Übervater Chomeini allgegenwärtig ist?
„Unsere Attraktion sind unsere Menschen“, erklärt der junge Mullah, den wir im Innenhof einer Medresse treffen. 33 Jahre alt ist er und beseelt von seinem Auftrag, den Islam zu lehren. Ein paar junge Männer in Jeans und mit Rucksäcken neben sich hören ihm zu. „Khodahfez“ ruft er uns zum Abschied hinterher, Gott schütze dich.
Im Zug geht es um eine andere Religion, die der Zoroastrier. Um Zarathustra, den man von Nietzsche her zu kennen glaubt. Im sechsten Jahrhundert vor Christus hat er eine eigene Religion gegründet, geprägt vom Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Ahura Mazda und Ahriman. Der Kampf, so heißt es, währe 9000 Jahre. Jetzt befänden wir uns im letzten Jahrtausend. Vieles kommt mir bekannt vor, das Weltgericht am Ende, die Hölle, der Weltheiland. In Yazd, der alten Stadt mit den Lehmbauten und den Windtürmen, steht der Feuertempel mit der „ewigen Flamme“. Die Wände zieren Sprüche aus dem Avesta, dem religiösen Buch der Zoroastrier. Viele Besucher falten die Hände. Unter den 500 000 Einwohnern in Yazd sind noch etwa 2000 Zoroastrier. Im ganzen Iran leben rund 80 000.
Zum Sonnenuntergang treffen sich Touristen und Einheimische draußen vor der Stadt, an den Türmen des Schweigens, wo die Gläubigen einst ihre Toten den Geiern überließen, damit die Leichen die Erde nicht verschmutzten. Eine magische Stimmung liegt über der Landschaft. Längst schon werden keine Toten mehr auf den Berggipfeln ausgesetzt, verschwunden sind die Geier. Und doch. Man kommt leicht ins Grübeln hier droben zwischen Himmel und Erde.
Im Zug ein Gespräch mit dem Chefreiseleiter über Zarathustra, die Preußen und den Islam und mit Shapoor beim Mittagessen über die Klimaveränderung, verlassene Dörfer, Windenergie und unterirdische Wasserleitungen. Draußen ziehen Maisfelder und Obstbäume vorbei, Schafe und Ziegen, ein Kraftwerk, Bäume, in deren Kronen Plastiktüten nisten. Ein Zug kommt uns entgegen. Ein Bahnhof mit wartenden Menschen, Gebetsraum- und Toilettenwegweiser nebeneinander. Berge auf beiden Seiten. Vor dem Ziel dann Bauern bei der Ernte, belebte Straßen, Kühe.
Und am Bahnhof wieder ein Empfangskomitee, diesmal mit Blumen. Auch das Fernsehen ist schon da und eine Polizeieskorte. Wir sind in Zanjan, wo unter den Nazis Straßen und Häuser gebaut wurden. Es ist Freitag, gähnende Leere im Basar, dafür ein Trödelmarkt und eine mit Stacheldraht verrammelte Moschee. Im alten Waschhaus tun Wachspuppen so als wären sie Menschen. Wir fahren mit Polizeibegleitung zum Mausoleum des Ojeitu, einem bombastischen Kuppelbau aus dem 14. Jahrhundert, den innen ein Riesengerüst stützt. Auf der Straße zurück zum Zug bleiben wir plötzlich stehen, weil wir auf das Polizeiauto warten müssen. Wozu? Keiner weiß es so recht oder will mit der Antwort raus. Wir sind im iranischen Aserbeidschan und nicht mehr weit von der Grenze zur Türkei.
22Okt. 2014
November 5, 2014
Danke, Lilo, für diese einfühlsame Vermittlung der mannigfalten Eindrücke, die immer noch dieses gewaltige Land prägen.
Januar 2, 2015
Mit einem Bummelzug! Das wusste ich nicht. Tolle Eindrücke!
Januar 4, 2015
Ein Bummelzug war es nicht gerade, nur ein ganz normaler türkischer Zug, den Lernidee für die Fahrt umrüsten hat lassen.