Da sitzt er wie er wohl zu Lebzeiten immer gerne saß, am kleinen Kaffeetisch mit Blick auf die Tür: Für den Schriftsteller Peter Altenberg war das Cafe Central das Wohnzimmer, wo er seine Prosaskizzen schrieb. Heute erinnert ein Pappkamerad an die große Zeit, als sich die Wiener Boheme hier im Kaffeehaus traf.
Wien und seine Kaffeehäuser, das ist eine Geschichte für sich. Rainer
Lefevre, der staatlich geprüfte Fremdenführer mit der hohen Stirn und
der kantigen Metallbrille, hat sie studiert. 800 Kaffeehäuser gibt es
in Wien und dazu noch moderne Cafe-Bars und Steh-Cafes. Wir aber sind
auf der Suche nach den Cafes aus der guten alten Zeit. Solchen mit
plüschigen Bänken, Sesselchen und runden Tischen, mit vielen Zeitungen
und Bedienungen in Schwarz-Weiß.
„Mozart war ein begnadeter Kaffeehausgänger“, erzählt Lefevre, während
er im Eilschritt von Kaffeehaus zu Kaffeehaus spurtet. „Überhaupt die
ganze Intelligenzia des 19. Jahrhunderts saß im Kaffeehaus, um über
Dinge zu diskutieren, die sie draußen nicht erlebten.“ Auch Freud ging
gerne Kaffee trinken. Dass der Psychoanalytiker sich aussuchen konnte,
wo, hatte er den Türken zu verdanken. Der Sage nach brachte der
sprachkundige Späher Georg Franz Kolschitzky die braunen Bohnen nach
Wien, als er bei der Türkenbelagerung 1683 durch die Fronten schlüpfte.
Er soll auch mit der „blauen Flasche“ das erste Kaffeehaus Wiens
eröffnet haben. Tatsächlich, korrigiert unser Führer die schöne Mär,
hätten wohl die Armenier das Kaffeehaus nach Wien gebracht und dort
habe es wie nirgends sonst „einen Nerv getroffen“.
Im Wiener Kaffeehaus wird philosophiert, meditiert, Zeitung gelesen und
getratscht, was das Zeug hält, es wird Billard und Schach gespielt und
– ja auch das – Kaffee getrunken und Kuchen gegessen. Man geht ins
Kaffeehaus, um zu sehen und gesehen zu werden. Oder auch, um sich zu
verstecken wie der große Misanthrop Thomas Bernhard, der im Braunerhof
an Tisch Nummer 3 vor sich hin grantelte: „Das typische Wiener Cafe,
das in der ganzen Welt berühmt ist, habe ich immer gehasst, weil alles
in ihm gegen mich ist. Andererseits fühlte ich mich jahrzehntelang
gerade im Braunerhof, das immer ganz gegen mich gewesen ist (wie das
Hawelka), wie zu Hause.“
Nicht daheim und doch zu Hause fühlte sich im stets verräucherten
Hawelka die Wiener Gruppe um HC Artmann und Oswald Wiener. Und Artmann
bezeichnete das Cafe in der Dorotheengasse, in dem auch Heimito von
Doderer gerne verkehrte, als einen Ort, ohne den „vieles ungetan,
ungesprochen und gar nicht erdacht worden wäre“. Dass im „Bucholymp“
des Hawelka neben dem Geschichtenerzählen auch Selbstbetrug und
Erinnerungssüchtigkeit angesagt waren, hat Andre Heller schon als
Teenager begriffen. Die Realität verlor sich im blauen Dunst des
Hawelka. Dunstig ist es in dem alten Cafe mit den abgewetzten Sofas, wo
der 99-jährige Patriarch noch (fast) jeden Tag seine Runde macht, auch
heute noch. Doch statt der Künstler reden sich Studenten und Schüler
die Köpfe heiß, wenn sie über Gott und die Welt und die Wiener Politik
diskutieren. Und die Touristen nippen an ihrer Melange und staunen.
Vielleicht warten sie ja auch auf den „Nackerten im Hawelka“, den Georg
Danzer besungen hat („a so a Nackerter, hat a sein‘ Reitz/mach ma halt
a Ausnahm’/san wir heut‘ ned grausam/weu ein Bohemienlokal pfeift auf
Spießbürgermoral“).
Ja, ja, die Spießbürgermoral. Die machte so manchem Künstler das Leben
schwer. Und deshalb flüchtete er ins Kaffeehaus, wo er unter
seinesgleichen war. Wie Gustav Klimt im Griensteidl. In der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts war es „eine Wiener Institution“, sagt
Rainer Lefevre. Arthur Schnitzler war hier Stammgast, Hugo von
Hofmannsthal, Felix Salten ("Bambi", "Josepine Mutzenbacher", Hermann Bahr und Karl Kraus gingen im
Griensteidl ein und aus. Der Großkritiker allerdings nur solange, bis
Felix Salten ihm eine Ohrfeige verpasste, weil er Saltens Liebesleben
öffentlich gemacht hatte. Danach wanderte Kraus aus – ins Cafe Museum.
Auch die anderen Künstler mussten umziehen, denn das Griendsteidl fiel
der Spitzhacke zum Opfer. Neues Zuhause der Wiener Szene wurde dann das
Cafe Central, wo der Lebenskünstler Peter Altmann Hof hielt. Hinten, wo
beim Schachspiel die Köpfe rauchten, war oft ein Mann mit strengem
Blick und schwarzem Bart anzutreffen: Leo Trotzki. „Wien war auch ein
Ort für Exilanten“, erklärt unser kundiger Guide, „das Zentrum eines
Vielvölkerstaates“. Und das Kaffeehaus war auch in dieser Hinsicht eine
typisch Wiener Melange.
Als es 1873 eröffnete war das Landtmann „Wiens eleganteste
Cafe-Localität“. Es kamen Gustav Mahler und Emmerich Kalman, Sigmund
Freud, Felix Salten und der unvermeidliche Peter Altenberg. Später dann
Stars wie Romy Schneider, Curd Jürgens, Otto Preminger.
Promi-Geschichten eben. Doch dass der Wiener Bürgermeister einem
Oberkellner den Kaffee serviert, das gab’s nur im Landtmann. Als „Herr
Robert“ am 23. Dezember 2003 nach 30 Jahren seinen Dienst quittierte,
sagte „tout Wien“ leise Servus zum „berühmtesten, diskretesten und
zuvorkommendsten Kellner“ der Stadt und von Bürgermeister Häupl gab’s
nebst dem Kleinen Braunen einen Goldenen Rathausmann als Auszeichnung.
Schon lange hat sich die Institution Kaffeehaus vom großen Sterben in
den 60ern und 70ern des letzten Jahrhunderts erholt. Auch das
Griensteidl ist wieder da, „ein schöner Ort, wo man übers Leben
nachdenken und den Bundeskanzler vorbeigehen sehen kann“ (Lefevre). Im
Cafe Sperl am Spittelberg, wo Klimt & Co einst ihre „kleinen
Braunen“ mit Skizzen auf dem Kaffeehauspapier zahlten und Franz Lehar
seinen Stammtisch hatte, treffen sich auch heute noch Künstler wie
Michael Köhlmeier und Robert Menasse. Während der Wiener Festwochen
schaut Luc Bondy gern vorbei.
In der Conditorei Sluka, einst k.u.k.-Hofzuckerbäcker, verkehrt seit eh
und je die Wiener Politprominenz. Und die „Sluka-Torte“ oder die
„Flora-Krapferl“ munden dem Präsidenten ebenso wie sie vor langer Zeit
Kaiserin Sisi geschmeckt haben.
Für die Touristen ist aber „das Sacher“ immer noch die Adresse – wegen
der Sachertorte, die der Konditorlehrling Franz Sacher für den Fürsten
Metternich kreierte. Und die Gäste, die jetzt an den Marmortischchen
unter dem Sisi-Porträt schlemmen, ahnen kaum etwas von der
Vorgeschichte des Hauses. Das nämlich, weiß Rainer Lefevre, war als
„Maison meublee“ mit Separees „beliebter Treffpunkt des Hochadels“.
Pikante Begegnungen waren nicht ausgeschlossen. So soll eines Nachts
Erzherzog Otto „nur mit einem Degen bekleidet“ auf die Gattin des
britischen Botschafters gestoßen sein. Leben und leben lassen, darin
waren die Wiener schon immer Meister. Doch wenn es ums Eingemachte
geht, dann streitet man, dass die Fetzen fliegen.
Jahrzehntelang lagen das Hotel Sacher und die Hofzuckerbäckerei
Demel im Clinch – wegen der Sachertorte. Beide bestanden auf das
alleinige Recht, die Original Sachertorte zu verkaufen. Hintergrund:
Zwar hatte der Franz Sacher die Torte erfunden, doch erst sein ältester
Sohn Eduard brachte sie in die heute bekannte Form – während seiner
Lehrzeit beim Demel. Man stritt um die Verwendung des Namens, die
zweite Marmeladeschicht in der Mitte und die Verwendung von Margarine
anstelle von Butter. Die salomonische Lösung: Im Sacher gibt’s die
„Original Sachertorte“, im Demel die „Eduard-Sacher-Torte“, im
Volksmund „Echte Sacher-Torte“.
Den Gästen des Demel, die ihre Zuckerbäckerkunst gerne im Schaufenster
ausstellen, scheint die handgearbeitete Demel-Version zu munden. Bis
auf die Straße stehen die Leckermäuler an. Vielleicht wollen sie ja
auch nur von einer „Demelinerin“ bedient werden. Ob die Mädels in den
schwarzen Kleidern mit den weißen Schürzchen den Gast auch heute noch
mit „Haben schon gewählt?“ ansprechen? So jedenfalls will es die
Tradition.
Doch die Zeiten ändern sich – auch in Wien. Im Herzen der Stadt hat
sich ein amerikanischer Kaffeesieder festgesetzt. Kein Problem, meint
unser Guide. Selbst Starbucks habe sich Wien angepasst. „Man bekommt
dort auch einen kleinen Braunen und sogar Zeitungen.“ Und W-Lan, das in
den Starbucks-Filialen selbstverständlich sei, gebe es jetzt auch in
immer mehr Traditions-Cafes. „Starbucks ist also nicht der Untergang
des Abendlandes.“ Eher schon eine zeitgenössische Zutat in der Wiener Melange.