Nachhaltigkeit ist mehr als nur ein Wort. „Wir haben einen Kredit an der Umwelt aufgenommen, den wir kaum zurückzahlen können“, sagte Reiner Klingholz, der bis 2019 das Institut für Bevölkerung und Entwicklung in Berlin leitete, in einem Spiegel-Interview. Er fordert dazu auf den „Konsumwahnsinn vor der eigenen Haustür zu bändigen“: Das gilt auch im Tourismus. Dass Nachhaltigkeit „eines der drängendsten Probleme“ ist, räumt selbst Ed Bastian, CEO von Delta Airlines, ein.
Reisen aus Rache?
Doch trotz aller Beteuerungen sieht es so aus, als wolle die Branche weitermachen wie bisher – und als wollten die Reisenden auch nichts anderes, obwohl laut Umfragen immer mehr Menschen „einen Wunsch nach verantwortungsvollen Reisen“ hegen. Ist es nicht vielmehr so, dass alle jetzt einfach reisen wollen? Revenge Travel heißt das etwas seltsame Schlagwort – Reisen aus Rache für die verlorene Corona-Zeit. Die Touristische Runde diskutierte den Stand der Dinge in Sachen Reisen und Nachhaltigkeit.
Nachhaltigkeit à la TUI
Immerhin hat sich selbst die TUI das Etikett Nachhaltigkeit angeheftet. „Better Holidays, Better World“ heißt die 2015 verabschiedete Nachhaltigkeitsinitiative des Konzerns. Ihr Ziel: bis 2020 jährlich zehn Millionen „grünere und fairere“ Urlaubsreisen. Die Initiative war erfolgreich. Schon 2019 übernachteten 10,3 Millionen Kunden in Hotels mit Nachhaltigkeitszertifizierung. Zwischen 2015 und 2020 wurden im TUI Konzern 43 Millionen nachhaltigere Reisen durchgeführt. Reicht das?
Das Problem mit der Zertifizierung
Dr. Harald Zeiss, Professor für nachhaltigen Tourismus an der Hochschule Harz, weist darauf hin, dass die Zertifizierung im Tourismus komplexer ist als etwa beim Kühlschrank. „An dieser Komplexität haben sich schon viele die Zähne ausgebissen.“ Denn die Gäste könnten sich nur wenig unter so einem Zertifikat vorstellen. Das sei ein Dilemma, das die Branche nicht auflösen könne. Aber immerhin seien Unternehmen wie die TUI „am Thema dran“ und hätten sich Nachhaltigkeitsziele gesetzt.
Der Aufholeffekt nach Corona
Allerdings werde es in den nächsten Jahren zu einem Aufholeffekt kommen. Durch Corona habe man Zeit und Geld verloren und sei keinen Schritt weiter als zuvor. Trotzdem ist Zeiss davon überzeugt, dass nachhaltige Produkte auch beim Reisen künftig größere Chancen haben werden. Immer mehr Menschen stellten das „Höher, Schneller, Weiter“ infrage.
Es gehe darum, die Reise wieder wertvoll zu machen. Zu begreifen, was für ein Luxus es ist, reisen zu können und zu dürfen.
Die Sache mit den Kurzstreckenflügen
Ambros Gasser, Geschäftsführer des Wanderreisen-Spezialisten ASI, hält Entschleunigung beim Urlaub für besonders wichtig. Mit der Ächtung von Kurzstreckenflügen war ASI Vorreiter. Allerdings dürfe diese Maßnahme nicht losgelöst betrachtet werden. Es gehe darum, den Status Quo zu erfassen, das Thema messbar zu machen. Und dazu gehöre auch der Umsatz, der in den bereisten Ländern als lokale Wertschöpfung bleibe. Das Verbot der Kurzstreckenflüge könnte dabei helfen, den CO²-Fußabdruck zu verringern.
Die richtigen Kunden finden
Wobei die Aktion laut Gasser nicht bei allen Kunden auf Verständnis gestoßen sei.
Aber: „Wir müssen nicht jeden begeistern, sondern wollen in der Nische die richtigen Kunden finden.“ Bei Geschäftsreisen hält der ASI-Chef auch Kurzstreckenflüge für sinnvoll, bei Urlaubsreisen sei das aber etwas anderes.
Was ist mit der Langstrecke?
Für Martina von Münchhausen, Tourismusexpertin beim WWF, greift die Diskussion um Kurzstreckenflüge zu kurz. Das Kritische bei den Reisen seien die Langstreckenflüge. Hier müsste man an den wenigen Stellschrauben drehen, die zur Zeit zur Verfügung stünden (längere Aufenthaltsdauer, Kompensation der Flüge). Sie weist darauf hin, dass der WWF in 150 Ländern Naturschutzprojekte habe und fast jedes mit einer Tourismuskomponente.
Die Bedeutung des Tourismus
Für den Natur- und Artenschutz sei „Gemeinde basierter Tourismus“ existenziell. Wenn dieser Tourismus wegfalle, käme es zu einer fatalen Kettenreaktion, weil die Menschen, die auf den Tourismus vertraut hätten, nicht nur dieses Vertrauen verlören, sondern auch zurück in Berufe gingen, die in Konflikt mit den Naturschutzzielen stünden: Ackerbau, Viehzucht, Fischerei oder Rodung von Wäldern nähmen zu.
Das Dauerdilemma mit den Fernreisen
Man stehe vor einem Dauerdilemma, beklagt die WWF-Frau: Auf der einen Seite seien Langstreckenflüge schädlich für die Umwelt, auf der anderen Seite seien die Projekte mit ihren erfolgreichen nachhaltigen Tourismuskonzepten auf internationale Besucher angewiesen.
Verantwortungsvoller Tourismus
Es dürfe aber kein „business as usual“ geben warnt Martina von Münchhausen. In der Ferne müsste Tourismus verantwortungsvoll gestaltet werden. Reisen müssen entlang ihrer Wertschöpfungskette sowohl die lokalen Bedürfnisse als auch Umwelt- und Naturschutzziele unterstützen. Denn viele der sogenannten Alternativen erwiesen sich als Belastung.
Mehr Kostenwahrheit bei Flügen
Eckart Mandler von Slow Food Travel hofft auf eine veränderte Einstellung in der Zukunft. Die Flüge würden sich vielleicht schon bald ändern – mit neuen Rahmenbedingungen bei der Preisgestaltung. Er rechnet mit „ Kostenwahrheit für die Klimabelastung“. Und dann zitiert er Hermann Löns (vor 100 Jahren): „Zukünftig wird es nicht darauf ankommen, dass wir überall hinfahren können, sondern ob es sich lohnt, dort anzukommen.“
Die Kunst des Reisens
Für die Menschen sei das Nicht-Ankommen ein Problem, ist der Kärntner überzeugt. Dagegen setzt er mit Slow Travel, dem langsamem Reisen. Denn Reisen sei eine Kunst, die viele verlernt hätten. „Zu viele Kunden greifen gern auf das billigste/günstigste Angebot zurück ohne es zu hinterfragen.“ Das gelte auch für Billigflüge.
Verantwortung übernehmen
Allzu oft sei eine Reise günstiger als die Zeit zu Hause. Das könne so nicht weiter gehen. Künftig werde das Reisen an Wert gewinnen müssen. Doch die nötigen Veränderungen könne man nicht ausschließlich den Kunden überlassen. Alle Beteiligten – auch Veranstalter und Destinationen – müssten Verantwortung für respektvolles Reisen übernehmen.
Die Menschen mitnehmen
„Man muss nicht um die Welt jetten, um etwas zu erleben“, ist Mandler überzeugt. Auch nahe Ziele könnten reizvoll sein. Und zu Fuß zu gehen sei nachhaltig – „je länger desto besser“. Den Destinationen rät der Wander-Experte nicht die Fehler von früher zu wiederholen und bei ihren Planungen künftig die Menschen vor Ort mit einzubinden. „Tourismusräume sind Lebensräume“, in denen auch die Einheimischen eine wichtige Rolle spielten.
Die Folgen von Instagram
Probleme sieht Mandler bei Instagram, wo gern Orte beworben würden, die oft nicht erschlossen sind, und womöglich zu einer Belagerung natursensibler Orte führten. Bei Slow Food Travel in Kärnten und dem Produkt Wanderhotels werde schon jetzt großer Wert auf verantwortungsvolles Reisen gelegt und die Urlauber würden für eine bewusstere Freizeitgestaltung sensibilisiert.
Zeit für neue Wege
„Wann wenn nicht jetzt ist Zeit für neue Wege, die auch Reisende einschlagen sollten?“
Das sieht auch Thomas Bucher vom Deutschen Alpenverein so. Allerdings ist er überzeugt davon, dass umweltverträglicher Bergsport, wie ihn der DAV propagiere, auf Rahmenbedingungen angewiesen ist, die Politik und Kommunen vorgeben müssten.
Überlastung kein alpenweites Problem
Dass es auch in den Alpen zu einer Überlastung durch zu viele Wanderer und Bergsteiger kommen könnte, ist für Bucher kein alpenweites Problem, sondern eines, das bestimmte Regionen zu bestimmten Zeiten treffe und durch Corona verstärkt würde. Den viel diskutierten „Overtourism“ gäbe es insbesondere in den Hotspots der bayerischen Alpen wie am Spitzing oder in Oberstdorf.
Besucherströme entzerren
Und das Problem sei in erster Linie der Verkehr mit Staus und überfüllten Parkplätzen. Mit „Leuchtturmprojekten“ wie dem Bergbus ab München halte der DAV dagegen. Um die auch im Sommer zu erwartenden Besucherströme zu entzerren, müsse der Nahverkehr deutlich verbessert werden, fordert Bucher. Zumal auch in diesem Jahr die meisten Deutschen wieder im eigenen Land reisen würden.
Deutschland profitiert
Dass der Deutschlandtrend anhalten wird, glaubt auch Harald Zeiss. Denn ausgerechnet durch den Klimawandel werde das Urlaubswetter hierzulande wärmer. Einen zweiten Trend sieht der Professor in der Digitalisierung. Sie könne durch mehr Flexibilisierung zu einem besseren Work-Life-Verhältnis führen und mehr Kurztrips zum Beispiel in die deutsche Provinz möglich machen. International sollten Urlauber weniger häufig aber dafür längere verreisen.
Hoffnung auf Einsicht
Der Begriff Nachhaltigkeit müsse transparenter und messbarer werden, findet Ambros Gasser. Er verteidigt den ASI-Stop für Kurzstreckenflüge. Es ginge auch darum, mit kleinen Schritten die Dinge in Bewegung zu bringen. Schließlich könne man nur auf bessere Einsicht der Touristen hoffen. Allerdings wohl nicht in der nächsten Zeit. Denn derzeit gelte „die Leute wollen wieder los, komme was wolle“.
Infos im Internet:
Prof. Harald Zeiss über Inatour (Institut für nachhaltigen Tourismus) https://www.inatour.de/
Ambros Gasser (ASI Reisen) https://www.asi-reisen.de
Martina von Münchhausen (WWF) https://www.wwf.de/
Eckart Mandler https://www.slowtourism.at/
Thomas Bucher https://www.alpenverein.de/
Juli 5, 2021
Danke für die Denkanstöße.
Ich bin auch sehr gespannt, wie es mit dem Tourismus weitergeht. Kurzstreckenflüge, Kreuzfahrten, Instagram-Tourismus etc. … da gibt es für alles für und wider. Die, die es viel nutzen, heben die Vorteile hervor, anderen, denen es egal ist, sagen wie schrecklich es doch ist.
Ich hoffe, dass sich einfach ein guter Kompromiss einpegelt, sodass jeder weiterhin Reisen kann, das Reisen vielleicht noch mehr als Völkerverständigung (was wir gerade derzeit sehr viel bräuchten) denn das bloße Besichtigen gesehen wird und dass sich in jeder Ebene des Reisens ein guter Kompromiss aus wirtschaftlichen und nachhaltigen Faktoren finden lässt.
LG von einem Reiseblogger und Tourismusbeschäftigten 🙂
Chris