Vexierbild des Lebens: Rolf Dobellis „Himmelreich“

Himmelreich
Autor: Rolf Dobelli
Verlag: Diogenes
Erschienen: August 2006

„Ich genoß die studentenhafte Atmosphäre unserer Leseabende. Es gefiel mir, mich wie ein Hund auf dem Boden zu räkeln, während ein süßer Wortregen auf mich niederrieselte. Später lagen wir im Bett, und ich fragte mich, ob Josephine nicht das Instrument einer Herrschaft war, der dran gelegen war, das gut gezimmerte Gebäude meiner Welt, das ich in 42 Jahren aufgebaut und laufend modernisiert hatte, still und heimlich in eine zersetzende Säue zu tauchen.”
Philipp Himmelreich weiß gar nicht, wie nahe er der Wahrheit kommt. Denn sonst würde er nicht erst versuchen, aus der Gefahrenzone zu entfliehen, indem er der Versetzung nach New York folgt. Fern von der jungen Buchhändlerin glaubt er sich sicher. Ja , er bastelt sogar wieder daran, seine Ehe zu retten. Auf dem Flug in sein neues, altes Leben versinkt er in Träumereien, Wunschdenken. „Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, alles in einem Brennpunkt konzentriert, und dieser Brennpunkt bin ich.” Er träumt davon, von Josephine entführt zu werden, als ihre Geisel in einem alten Bus quer durch Europa zu reisen, in die neue Welt zu segeln und auf einer einsamen Insel ein neues Leben zu beginnen.
Sein altes Leben in New York scheint davon unberührt. Er hat Erfolg als Banker, seine Frau kehrt zu ihm zurück ­ und dann überstürzen sich die Ereignisse, überschneiden sich die Lebensentwürfe. Himmelreichs Fantasien scheinen sich auf seltsame Art zu verwirklichen und der Manager stürzt aus seinem Lügengebäude in eine fast surreale andere Wirklichkeit. Es ist, als hätte er sich am Scheideweg in zwei Personen gespalten, als könne er zwei Leben leben. Was ist die wahre Wirklichkeit, was die fantasierte? Oder gibt es tatsächlich nicht nur eine Wirklichkeit, sondern nur Ideen davon?
Souverän spielt der Schweizer Autor Rolf Dobelli, der in seinem ersten Leben Finanzchef war, mit verschiedenen Wahrnehmungsebenen und philosophischen Erklärungsentwürfen. „Kann es möglich sein, dass eine Existenz sich an Punkten wichtiger Entscheidungen gabelt und als zwei Entwürfe munter weiterentwickelt, ohne daß der eine vom anderen weiß? .. Daß immer alls ist, immer alles zugleich ist, das Ja und das Nein, nur daß wir die Wirklichkeit niemals in ihrer Gesamtheit zu sehen kriegen, sondern ausschließlich durch einen fadendünnen Schlitz?” Und ganz nebenbei ist dieser stilistisch glänzende Liebesroman auch noch eine Liebeserklärung an die Welt der Bücher.

Rolf Dobelli, Himmelreich, Diogenes, 384 S., 19,90 €, erscheint im September

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