Zu Fuß über die Alpen und das bei dem Wetter. „Du spinnst“, sagen die Freunde. Wenn das so ist, dann spinnen jede Menge Leute. Denn von Oberstdorf aus ziehen ganze Heerscharen von Wanderern gen Süden. Allein 6000 hat die Bergschule Oberallgäu in den letzten 30 Jahren über die Berge geschleust, „unfallfrei“, wie der Chef der Bergschule, Bernd Zehetleitner, betont. Zur Jubiläumsüberquerung waren auch Bürgermeister Thomas Müller und Pfarrer Peter Guggenberger mit von der Partie. Um es vorweg zu nehmen: ein Spaziergang ist die Alpenüberquerung nicht und wer nicht standfest ist, sollte die Füße davon lassen. Ein Tagebuch:Montag, 10. Juli
Am frühen Nachmittag mit dem Bus von Oberstdorf ins Tal bis
Spielmannsau. Von da ab wird’s ernst, auch wenn wir bei der
Materialseilbahn die schweren Rucksäcke abgeben können. Denn von nun an
geht’s bergauf, ziemlich schweißtreibend. Der Bürgermeister immer
vorneweg, der Pfarrer als Nachhut. Dazwischen wir, noch nicht so ganz
fit zu Fuß. Ein schneller Wanderer überholt uns, hat sich aber wohl
überschätzt. Kurz vor der Loreto-Kapelle sitzt er schwer atmend im
Schatten. Auch wir machen mal Pause und Hochwürden erzählt uns die
Geschichte der kleinen Wallfahrts-Kapelle, die auf das Jahr 1665
zurückgeht. Seit 1992 haben die österreichischen Holzgauer die
traditionelle Wallfahrt übers Mädelejoch nach Oberstdorf wieder belebt,
seit 1996 machen die Oberstdorfer ihren Gegenbesuch. 1997 hat eine
Lawine die kleine Kapelle zerstört. Nur das Gnadenbild ragte unversehrt
aus dem Schnee. Das Kirchlein wurde wieder aufgebaut und das Bild der
Madonna überwintert jetzt im Tal.
In der schattigen Talsohle hat sich der Schnee des letzten Winters
trotz der Hitze der letzten Wochen noch gehalten. Von schneeweiß keine
Rede. Die grau-schwarz gesprenkelte Schneedecke liegt über dem Weg wie
eine belegte Zunge. Wir tauchen unter ihr durch und sehen schon von
weitem das Etappenziel des heutigen Tages, die Kemptner Hütte zwischen
den massiven Felsklötzen Muttler und Kratzer. Endlich ein Russ! Ein
Prost auf das Durst stillende Getränk. Und schon sind wir per du. Auf
den Bergen sind wir alle gleich. Aus dem Bürgermeister wird Thomas, der
Platzhirsch und Hochwürden Peter lächelt dazu.
Vier Gänge serviert der Hüttenwirt zum – frühen – Abendessen, um 19.15
sind wir alle satt und zufrieden. Rudelführer Bernd überredet uns noch
zu einer kleinen Wanderung durch das satte Grün der Allgäuer Grasberge.
Links vom Weg pfeift ein Murmeltier warnend, oben im Geröllfeld können
wir Steinböcke erahnen. Ein paar Gämsen sprinten den Kamm entlang,
hinter dem sich majestätisch die Trettach abzeichnet, das Matterhorn
des Allgäu. Im Abendrot überziehen sich die Kalkfelsen mit zartem rosa
Schimmer. Ihr Spiegelbild im blauen See. Einige haben kaum Augen für
die grandiose Szenerie, die Handys piepsen aufgeregt. Endlich ein Netz.
Noch ein paar weinselige Gespräche in der Hütte. Um 22 Uhr ist Bettruhe
angesagt und ich krieche müde und glücklich unter die Decke.
Dienstag, 11. Juli
Morgenstund’ hat Gold im Mund. Frühstück um 7 Uhr. Dann Aufstieg zum
Mädelejoch, wo Österreich beginnt. Der Große Krottenkopf, erzählt
Bernd, ist eigentlich der höchste Berg der Allgäuer Alpen (2600 Meter),
steht aber auf österreichischem Grund. Früher gingen nicht nur die
Wallfahrer diesen Weg, sondern auch die Schmuggler. Soll ich ihm
glauben, dass sie in den 50iger Jahren sogar Waschmaschinen über das
Mädelejoch transportierten? In der Kemptner Hütte jedenfalls gibt’s
noch ein Grenzerzimmer. Aber jetzt geht’s erst mal bergab hinunter nach
Holzgau vorbei an den künstlich angelegten Simms-Wasserfällen.
Tom, unser fliegender Holländer, ist ganz aufgeregt. Das kleine
Holzgau hat eine große Vergangenheit und die hat mit Holland zu tun,
erfahren wir beim zünftigen Mittagessen im Bärenwirt. Mmm, der Russ’
schmeckt schon wieder! Die Holzgauer zogen schon früh „weit hinaus“ –
bis nach Holland eben und verdienten ihr Geld mit Schiffbau und
Holzhandel. Zurück in der Heimat bauten sie sich repräsentative
„Patrizierhäuser“ mit Lüftmalerei im „holländischen Stil“. Tom
schüttelt den Kopf. Solche Häuser kennt er von Holland nicht, aber
schön sind sie schon. Karl (73) und Hermi (65) Hammerle haben bis 1982
in dem wunderbar bemalten Haus aus dem 18. Jahrhundert gelebt, das heute
Heimatmuseum ist. Ob’s da drinnen auch so aussah? Hermi lacht laut auf: „Na,
um Gottes Wille. Des isch ja Steinzeit!“ Man habe es schön gehabt und
Tapeten an den Wänden. Der Karl habe geweint, als sie auszogen, fügt
sie hinzu und der Karl nickt und grinst zahnlos. Die Hermi könnte noch
viel erzählen, aber wir müssen weiter. Das Bustaxi wartet.
Fahrer Ronald brettert mit halsbrecherischer Geschwindigkeit die schmalen
Serpentinen hinauf ins Madautal. Nur einmal muss er bremsen, als uns
der „einsamste Wirt“ vom Berggasthof Hermine entgegenkommt. Seit die
Bergtaxis fahren, machen nur mehr die ganz Hartgesottenen Station im
Wirtshaus im Madautal, denn der Weg durch den Wald und entlang der
schroffen Saxer Wand zieht sich. Hier spielte sich – zumindest
filmisch – die Tragödie der Geierwally ab, erzählt der Ronald. 70 ist
er und schaut aus wie 50. Ja, die Berge, die erhielten jung. Um den
Aufstieg in der Mittagshitze beneidet er uns nicht. „Nur die Harten
kommen durch,“ meint er zum Abschied aufmunternd, als wir unsere
Rucksäcke schultern. Über uns Seekopf und Parseierspitze und am
Horizont der Augsburger Höhenweg, die „Traumstraße der Lechtaler
Alpen“, ein Klettersteig auf 2600 Metern.
Wir bleiben lieber auf dem
Grasweg, der sich unter der Hitzeglocke zielstrebig in die Höhe windet.
Kurze Rast am Bach, das kühle Plätschern ist Musik in unseren Ohren.
„Wann sind wir endlich da?“ quengeln einige wie ungeduldige Kinder.
Die lang gezogenen Queren scheinen kein Ende zu finden. „Es gibt gar
keine Hütte,“ argwöhnt Matthias aus Stuttgart und dann taucht sie doch
auf, vor dem Schotterfeld der Seespitze – die Memminger Hütte. Uff. Nix
wie auf die Terrasse, die Beine ausgestreckt. Prost auf den schönen
Tag.
Auf der Hütte wird’s eng. Wegen des Umbaus sind auch noch Arbeiter in
den Zimmern und Lagern untergebracht, wir richten uns zu zehnt im
Matratzenlager ein. Die Dusche ist kalt, trotzdem wunderbar. Man
lernt, die kleinen Freuden des Lebens wieder zu würdigen. Nach dem
reichlichen Abendessen lasse ich mich noch zum „Verdauungsspaziergang“
überreden – auf den Seekogel. Zwei Murmeltiere beäugen uns aus sicherer
Entfernung. Am Gipfelkreuz soll es sogar ein Netz geben, lockt Bernd.
Eine Aussage, die wir ins Reich der Sagen und Legenden verweisen. Doch
der Panoramablick im Abendlicht entschädigt. Wir sind von mächtigen
Gipfeln umstellt: Grottenkopf, Trettach, Mädelegabel, Freispitze,
Darwinkopf, Gatschkopf und Parseierspitze, mit 3069 Metern der höchste
Berg der nördlichen Kalkalpen.
Nach dem Abstieg bin ich rechtschaffen müde. Aber mit der Bettruhe ist
das so eine Sache. Draußen haben sich ein paar Unentwegte zur
weinseligen Runde gefunden und lachen sich schlapp. Wenn das Gegacker
und Geschrei etwas abebbt, setzen drinnen die Schnarcher ein. Ein
dissonantes Konzert. Freia knallt das Fenster zu, um Mitternacht
schleicht sich der letzte in die Koje und um 5 Uhr wühlt der erste
raschelnd im Rucksack. Ich ziehe mir den Schlafsack über den Kopf.
Hilft nix. Also raus aus den Federn, rein in den frischen Morgen.
Mittwoch, 12. Juli
Im Waschraum ist grade noch ein Becken frei, es duftet einladend nach
Kaffee. Die ersten machen sich schon auf den Weg. Vor der Terrasse
wirft sich ein kleines Murmeltier in Positur. Wettergespräche beim
Frühstück. Hochwürden Peter drängt zum Aufbruch: „Man läuft in den Tag
hinein!“ Aber Tom muss noch eine Fotosession dirigieren und auf dem Weg
zur Seescharte zücken auch die anderen die Kameras. Im klaren Spiegel
des Unteren Seewiessee stehen die Bergporträts als wären sie
hineingefallen. „Da soll auch ein Ungeheuer hausen, das sich von E 5-
Wanderern ernährt, die ohne Bergführer unterwegs sind“, erzählt der
Bernd ganz ohne Hintergedanken. Das Schotterfeld ist bunt gesprenkelt
von Wanderern. Reiche Auswahl für Berg-Nessie.
Endlich oben! Der Blick ins Inntal bis hin zur Silberspitze. Tom
plaudert angeregt mit zwei blonden Meisjes , die auf dem Weg zur
Augsburger Hütte sind. Von jetzt an geht’s bergab – 1900 Höhenmeter.
Geröll, Schotter. Ich bin froh über die Stöcke, denn der schwere
Rucksack sitzt mir im Rücken wie ein träger, fetter Käfer und droht
mich beim Straucheln aus dem Gleichgewicht zu bringen. Nach 400 Metern
die erste Rast. Freia, die Wieselflinke, posiert für Tom, der beim
Abstieg tatsächlich Flügel zu haben scheint. Männergespräche über
Liebe und Sünde auf der Alm. Der Bernd kennt die süßen Geheimnisse der
Hüttenwirte und –Wirtinnen, die großen und kleinen Fehltritte und so
manches mehr und Hochwürden Peter hört’s mit mildem Lächeln. Warum
soll’s auf der Alm koi Sünd’ geben?
In der Unteren Lochalm haben wir uns das Speckbrot und den Russ
verdient. Peter eilt in die Küche, Sigrid ins Häusle. Endlich die müden
Beine ausstrecken, die Blasen an den Füßen verpflastern. Wir sind noch
längst nicht unten. Das Zammer Loch. Rechts ragen die Wände steil in
die Höhe, links geht’s ebenso steil bergab. Der schmale Weg ist in den
Fels gesprengt worden. Fehltritte sind hier lebensgefährlich. Ein
Notarzt starb beim Einsatz, erzählt ein Marterl. „Es ist scho a Straf’
zum Teil,“ murmelt Hochwürden Peter und dass man hier seine Sünden
abbüße. Dann ein Schild mit der Aufschrift „Jeder Weg hat mal ein Ende“
– aber es geht noch immer weiter auf müden Füßen. Unheilvoll grollt der
Donner, ein paar Regentropfen fallen. Doch als wir alle Regenfit sind,
ist der Spuk schon wieder vorbei und auf der Märchenwiese sonnen sich
die bunten Blumen im frischen Grün. Eine letzte Rast vor dem letzten
Abstieg auf Serpentinen hinunter nach Zams. „Heut’ war der strengste
Tag,“ muntert Bernd die schlappe Truppe auf. „Toll, dass wir alle so
gut runter gekommen sind.“ Schließlich solle die Alpenüberquerung
„auch a bisserl eine Herausforderung sein“.
Jetzt aber erst mal ein Russ’, dann ins Zimmer und unter die Dusche.
Sigrid hat den Inhalt ihres Rucksacks auf dem Balkon ausgebreitet. Zu
früh. Das Gewitter hat uns doch noch gefunden, Zams liegt unter einer
Regenwalze. Wir sitzen im Trockenen. Der Vize-Bürgermeister ist
gekommen, die Tourismusverantwortliche, der Jagdleiter. Zams lebt gut
vom E 5, die Wanderer mit den dicken Rucksäcken gehören zum Ortsbild
wie die Kirche. Jagdleiter Hans Huber kümmert sich ehrenamtlich um den
Weg durchs Zammer Loch. Ein gemütlicher älterer Herr, der beim Thema
Weg auch ungemütlich werden kann. Ja, natürlich müsse man den in den
60er Jahren in den Berg gesprengten Weg richten „von Hand mit Pickel
und Schaufel“, aber der Wanderer habe auch Eigenverantwortung. „Bei uns
sagt man immer: Wärst net aufi gstiegn, wärst net abi g’falln.“ Wir
fallen nur noch in die Betten.
Donnerstag, 13. Juni
Sigrund verpflastert ihre armen Füße. Ich stakse auf Storchenbeinen die
Treppe hinunter. Wie ich jemals wieder wandern soll, ist mir ein
Rätsel. Auch bei den anderen meldet sich der Muskelkater. Aber ein
Bergsteiger kennt keinen Schmerz. Nach dem Frühstück schultern wir
unsere Rucksäcke und marschieren zur Venet-Bahn, die uns im Nu auf 2208
Meter bringt. Mit angenehmem Schauder blicken wir auf die Wand
gegenüber. Die Märchenwiese, die wie ein Balkon über Zams thront. Der
Weg, den wir gegangen sind, ist nur zu erahnen. An der Bergstation dann
wieder ein neuer Blick über grüne Matten, blumenübersät. Direkt unter
uns ein Murmeltier. Auf dem Panoramaweg ziehen die Berge an uns vorbei
wie in einem Film. Doch der Weg gehört uns nicht allein, eine ganze
Herde Kühe kommt uns entgegen. Bockig stellen sie sich uns in den Weg,
da muss auch der Bürgermeister ausweichen. Nur Tom wedelt die
Rindviecher unerschrocken beiseite. Über die Goglesalm wandern wir zur
Gaflunalm – unter unseren Füßen watteweiches Moos, Hochmoor, Wiesen.
Bei der Rast leisten uns Kühe Gesellschaft. Bernd hat’s ihnen angetan,
neugierig umdrängen sie seinen Rucksack. Eine schiebt ihr feuchtes Maul
auf Bernds Knie und leckt ihm das Salz von den Beinen. Wieder ein
tolles Fotomotiv für Tom. Der Steig verliert sich in Wald und Wiesen. Aber Bernd findet ihn immer wieder und wir folgen ihm blind soweit die Füße tragen.
In Wenns im Pitztal ist für mich der Weg zu Ende. Die anderen haben
noch zwei Tage bis Meran. Sigrid schreibt mir: „Die letzten beiden
Etappen sind ohne Probleme verlaufen, du hast einen sehr netten
Hüttenabend auf der Braunschweiger Hütte verpasst. Wir wurden nach
einem tollen Aufstieg von Mittelberg aus entlang des Gletschers mit
Sekt und Alpengesängen empfangen. Die Hüttenwirtin Cilli und ihre vier
Schwestern, allesamt ausgebildete Chorsängerinnen, haben den Abend mit
a-capella-Stücken gestaltet. Das war toll, selbst wenn einem persönlich
Jodellieder nicht so gut gefallen. Hochwürden Peter hat in der
Hüttenkapelle eine Andacht gehalten. Freia und ich sind nach
Mitternacht ins Bett, da waren aber noch einige von uns mit den
Sangesschwestern auf und haben die Hütte unterhalten. Auf dem Pitztaler
Jöchel haben wir morgens dann drei Steinböcke aus nächster Nähe
gesehen. Das Skigebiet auf der anderen Seite am Rettenbachgletscher war
öde, umso schöner dann der Panoramaweg nach Vent und weiter zur
Martin-Busch-Hütte, lang aber nicht steil.
Zur Ötzi-Fundstelle auf dem Hauslabjoch ging es dann querfeldein, keine
rotweißen Markierungen mher, nur Steinmännchen. Wie Bernd uns erklärt
hat, will man den Weg dorthin wohl nicht so touristisch aufwerten.
Außerdem war es recht unwegsam, Schnee, Gletschereis, Matsch und
Steine. Das Ötzi-Denkmal ist ein hässlicher Klotz mit viersprachiger
Beschriftung und dem Hinweis, dass die Mumie 70 Meter entfernt gefunden
wurde. Von der Similaunhütte hatten wir dann tolle Sicht auf den
Similaun und die vielen Seilschaften, die dorthin unterwegs waren. Der
Abstieg ins Tisental wieder lang, anfangs steil, dann gemütlich bis zum
Vernagt- Stausee. Beim Abschluss in Meran ging ab zehn Uhr das große
Gähnen an, wir waren halt Hüttenzeiten gewohnt. Aber in Meran wurden eh
ab 22 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt.“
Fazit: Schön war’s trotz so mancher Tour der Leiden. Die Spinner haben
mich angesteckt und beim nächsten Mal will ich auch dabei sein bis zum
bittersüßen Ende.
Info: Bergschule Oberallgäu
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