Über Stock und Stein

Wandern ist wieder in. Nicht zuletzt dank prominenten Vorbildern wie Manuel Andrack oder den Tatort-Stars Axel Prahl und Jan Josef Liefers, die deutsche Landschaften erwandern, machen sich auch immer mehr Jüngere auf die Socken. 40 Millionen Deutsche schnüren nach einer neuen Studie gelegentlich die Wanderschuhe, jeder Zweite. Deutschlandweit entstehen neue Wanderwege – wie der Kocher Jagst-Trail im württembergischen Hohenlohe. Wir sind vorausgegangen.

Der Mann hat in den 71 Jahren seines Lebens locker unsere Erde umrundet.
Und das ohne in ein Flugzeug zu steigen. Dr. Konrad Lechner, weißhaarig
und wettererprobt, bleibt lieber auf dem Boden und in der näheren
Umgebung. Da kennt sich der promovierte Naturwissenschaftler aus wie in
der buchstäblichen Westentasche. Schließlich hat er einige der
Wanderwege selbst entwickelt.
Auch beim neuen Kocher-Jagst-Trail im Hohenloher Land hat der Mann mit
dem verschmitzten Lächeln die Hände oder besser die Füße im Spiel
gehabt. Von Blaufelden aus hat er drei Steige konzipiert – den
Jagststeig
, den Bühler Steig und den Kochersteig – und dabei fünf
Bahnhöfe eingebaut. Die öffentlichen Verkehrsmittel gehören für den
erfahrenen Wandersmann dazu, erlauben sie doch eine umweltfreundliche
An- und eine individuelle Abreise.
Ausgangspunkt dieser Wanderung auf dem neuen Kocher-Jagst-Trail ist
Schwäbisch-Hall, ein Städtchen wie aus dem Bilderbuch mit alten
Stadtmauern und Holzbrücken, mit Türmen und Fachwerkhäusern und der sich
hoch über dem Marktplatz erhebenden gotischen St. Michaels Kirche. Im
Sommer lockt hier das dem Shakespearschen Original nachempfundene Globe
Theater
zu Freilichtspielen und am drüberen Ufer des Kocher schlägt die
Kunsthalle Würth mit ihren lichten hohen Räumen den Bogen zur Gegenwart.
Auch Schwäbisch Hall ist Würth-Land wie Künzelsau, der Sitz des
Schraubenkönigs Reinhold Würth. Trotz seiner Verurteilung wegen Steuerhinterziehung
lieben seine Landsleute den freigebigen und kunstsinnigen Patriarchen,
der kürzlich seinen 75. Geburtstag gefeiert hat. „Was wäret mer ohne den
Würth?“ fragt eine Wanderin, die in Künzelsau lebt und gerne wandernd
die heimische Umgebung erkundet, wo vielerorts die Fahnen mit dem
charakteristischen roten Logo wehen.
40 Wanderer haben sich zu dieser ersten Begehung des Kocher-Jagst-Trails
angemeldet – aus dem Saarland und aus Sachsen, aus Wiesbaden und
Esslingen, aus Göttingen und Backnang, aus Radebeul und Stuttgart. Alte 
und jüngere Ehepaare sind dabei, ein Vater mit seiner Tochter,
Freundinnen und allein reisende Wandersmänner, zwei Hunde und eben
Konrad Lechner. Er ist der gute Geist dieser Wanderung über Stock und
Stein. Schließlich hat er in jahrelanger Kleinarbeit diesen Weg
ausgetüftelt, abseits der Straßen aber nahe dran an sehenswerten Orten
und der Schiene. Jetzt ist der 200 Kilometer lange Trail durchgehend
markiert und ausgeschildert. Auch ohne GPS oder Wanderkarte sollen sich
die Wanderer hier zurechtfinden. So will es der deutsche Wanderverband,
der zusammen mit Hohenlohe Tourismus die Idee zum Trail hatte.
So ganz klappt das noch nicht. Manchmal gibt die Markierung Rätsel auf,
wenn an einem Baum die Pfeile in entgegengesetzte Richtung weisen, weil
man den Weg von beiden Seiten begehen kann. Oder wenn an einer
Weggabelung die Markierung völlig fehlt. Dann schüttelt der Konrad sein
weißes Haupt und murmelt etwas von Schlamperei. Bis zur Zertifizierung
im Herbst – ja, auch Wanderwege werden zertifiziert – muss alles perfekt
sein. Nur, wenn der Weg nicht mehr als drei Kilometer „Hartbelag“ hat,
wenn er nicht mehr als 300 Meter ungesichert entlang einer Straße führt,
wenn es ausreichend Bänke und Aussichtspunkte gibt und wenn die
Markierung stimmt, dann bekommt er das Siegel „Qualitätsweg Wanderbares
Deutschland
“. Rund 100000 Euro, schätzt der Konrad, koste die
Entwicklung eines neuen Weges, allein 10000 Euro verschlingt die
Markierung. Aber fürs Marketing sei so ein Siegel „ein unvorstellbarer
Vorteil“. Das Hohenloher Land jedenfalls wirbt schon jetzt mit dem neuen
Kocher-Jagst-Trail. Und auf dem Titelblatt ist das saarländische
Pärchen abgebildet, das bei dieser Wanderung mit von der Partie ist.
Sven (28) und Nadine (26) fallen auf in der Gruppe mehrheitlich
mittelalter bis alter Wanderer. Der nette Junge von nebenan und die
hübsche Blonde, zartgliedrig wie Tolkiens Elbenkönigin Galadriel, sind
am liebsten zu Fuß unterwegs – im Mittelgebirge. Vor drei Jahren haben
sie beim Wandermagazin die Teilnahme an der Aktion „fünf Wochen, fünf
Trails“ gewonnen und waren mit einer kleinen Gruppe auf deutschen
Steigen unterwegs. Auch damals schon mit Konrad Lechner. Die Tour war
zwar anstrengend, sagt Nadine – Sven findet das nicht – aber auch eine
tolle Erfahrung. „Jeden Abend wurde für uns der rote Teppich
ausgerollt.“ Die Begeisterung fürs Wandern hat offensichtlich
angehalten. „Wir sind schon Exoten in unserer Altersgruppe“, räumt Sven
ein. Aber sie könnten sich nun mal keinen Urlaub ohne Wanderungen
vorstellen. Nadine nickt und schaut mit großen blauen Augen in die
blumenübersäte Wiese. Der neue Kocher-Jagst-Trail, findet sie, sei vor
allem im Frühling „traumhaft, was fürs Auge“. Beim Wandern will sie weit
weg sein von der Zivilisation, eins mit der Natur.
Ein Kuckuck ruft, ein babyblauer Himmel spannt sich über dem lieblichen
Jagsttal
, die Rapsfelder leuchten im Sonnenlicht als hätte van Gogh sein
Sonnenblumengelb über sie ausgeschüttet, fast durchscheinend ist das
erste zarte Grün der Blätter, die wilden Apfelbäume blühen weiß und
rosa. Der Weg führt bergauf und bergab, hinunter zur Jagst und hinauf
zum Schloss Tierberg, dem die Schriftstellerin Agnes Günther (1863 –
1911) in ihrem Erfolgsroman „Die Heilige und ihr Narr“ als Schloss
Schweigen
ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Bis in die Mitte des
letzten Jahrhunderts rührte das Melodram um den Grafen Harro und sein
„Seelchen“ Generationen von Mädchen zu Tränen so wie heute vielleicht
Stephenie Meyer
s „Twilight Saga“. Und lange Zeit war Burg Tierberg eine
Art Wallfahrtsort für romantische Seelen.
Eine ganz andere Geschichte erzählt das Örtchen Braunsbach, eine der
Stationen am Kocher-Jagst-Trail. 350 Jahre jüdische Geschichte haben die
Gemeinde am Kocher geprägt. Bürgermeister Frank Harsch (39), der mit
den schmalen Zügen und der Intellektuellenbrille wie ein jugendlicher
Pfarrer wirkt, will die „Erinnerungskultur“ an diese Zeit pflegen. 2008
hat die kleine Gemeinde das „Rabbinatsmuseum“ eingeweiht. Das Haus, das
einst die Wohnung des Rabbiners und die israelitische Schule
beherbergte, war zuvor generalsaniert worden und hat jetzt auch Platz
für Kinderbetreuung. „Nur so“, ist der Bürgermeister überzeugt, „konnte
das Museum realisiert werden.“ Zwei Räume im Erdgeschoss beherbergen
eine Fülle an Erinnerungsstücken an die jüdische Zeit. Vitrinen widmen
sich dem jüdischen Jahr, dem jüdischen Haus oder auch koscherem Essen.
Zeitzeugen kommen zu Wort, es gibt jüdische Stammbäume und Artikel aus
der NS-Zeit. In vielen Texten und auch interaktiv wird über das
Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander von Juden und Christen
zwischen 1600 und 1942 informiert. Damals meldete Braunsbachs
Bürgermeister Bechtele sein Dorf „judenfrei“. „Der war wohl von einem
anderen Geist als wir heute“, sagt Braunsbachs jetziger Bürgermeister.
Frank Harsch hat den letzten Rabbi des Ortes, Simon Berlinger (97), in
Haifa getroffen – „ein unvergessliches Erlebnis“.
Was das Rabbinatsmuseum in Braunsbach ist das Pfarrhaus mit der Krypta
für Unterregenbach. Auch hier wird Geschichte erzählt. In diesem Fall
von der Pfarrerin persönlich. Hannelore Huber steht vor dem
eindrucksvollen Pfarrhaus und weist auf ein paar Steinmauern, Reste der
dreischiffigen Basilika, die hier im elften Jahrhundert erbaut wurde –
47 Meter lang und 87 Meter breit. Nur mehr die Grundmauern blieben
erhalten und die Krypta unter dem Pfarrhaus. „Wahrscheinlich hat die
Basilika Reliquien beherbergt“, sagt die Pfarrerin, „Unterregenbach war
ja Wallfahrtsort“. Tempi passati. Als die Basilika verfiel, verwendete
der Grundherr die Steine der Kirche für den Bau von Schloss Langenberg.
Auch das Schloss derer zur Langenberg ist vom Weg aus hin und wieder zu
erspähen – zwischen den Zweigen der Bäume. Die Orte machen sich rar in
dieser Berg-und-Tal-Landschaft, in der oft nur die allgegenwärtigen
Steinriegel“ davon zeugen, dass hier auch Menschen leben. Vor allem
Weinbauern hatten im späten Mittelalter diese Steinwälle aus den
Muschelkalkböden aufgehäuft. Heute sind sie Wärme speichernde Biotope,
in denen sich auch Eidechsen und Blindschleichen wohl fühlen. Die kleine
Schlange auf dem Wanderweg hatte sich wohl verirrt und war von der
ungewohnten Kälte wie erstarrt. Den Wanderern dagegen war ganz schön
warm geworden. Immer forscher marschiert der Konrad voran. 23,5
Kilometer lang ist diese Tagesetappe. Die wollen bewältigt werden. Ein
Ehepaar hat sich schon verabschiedet, das Paar mit Hund bleibt in
Unterregenbach zurück und eine müde Wanderin verarztet ihre Blasen und
schließt sich den Aussteigern an.
Die letzten Kilometer ziehen sich. Man glaubt gar nicht, wie lange 1000
Meter sein können. „Noch zweieinhalb Kilometer“, sagt eine alte Dame und
rammt ihre Stöcke energisch in den Waldboden. „Das schaffen wir auch
noch.“ 72 ist sie und nicht so leicht zu erschüttern. Als dunkle Wolken
den Himmel verdüstern und ein Schauer niedergeht, packt sie aus ihrem
Rucksack kurzerhand ein großes Regencape. Weiter geht’s. So ein
Regenguss kann doch eine Wandersfrau nicht erschüttern.

Info: Zum neuen Kocher-Jagst-Trail gibt es einen Pocketguide mit
ausführlichen Infos zu den einzelnen Strecken, herausgegeben vom
Wandermagazin, www.wandermagazin.de
Auskünfte zur Gegend bei Hohenlohe + Schwäbisch Hall Tourismus e.V.,
Münzstr. 1, 74523 Schwäbisch Hall, Tel. 0791/55-7444 begin_of_the_skype_highlighting   0791/55-7444 end_of_the_skype_highlighting, E-Mail:
info@hs-tourismus.de, www.hs-tourismus.de 

Es gibt bisher keine Kommentare.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert