Es war im Jahr 1841, als der gelernte Tischler und glühende Abstinenzler Thomas Cook seine erste Gruppenreise anbot, all inclusive schon damals: das Ticket zum Preis von einem Schilling für Zugfahrt, Sandwich und Tee. 500 Menschen wollten dabei sein. Als Cook 22 Jahre später eine Erkundungstour in die Schweiz ankündigte, meldeten sich 130 Teilnehmer, die von Genf bis nach Chamonix reisen wollten – per Bahn, auf Maultieren, in der Kutsche und zu Fuß. Am Ende blieben sieben übrig, die alle Strapazen auf sich nahmen. Darunter die 29-jährige Jemima Morell, die ihre Eindrücke in einem Tagebuch niederschrieb. 150 Jahre später folgten wir ihren Spuren von Salgesch nach Kandersteg. Damals waren es vier Frauen und drei Männer. Wir sind drei Frauen und drei Männer, und ich nehme Jemima mit auf die Tour.
Es ist Juli wie damals. Doch prall, wie die Engländerin sie beschrieb, sind die Trauben in den Weinbergen rund um Salgesch noch lange nicht. Der Winter hielt sich zu zäh, selbst hier im sonnenverwöhnten Wallis. Dass Salgesch heute der bekannteste Weinort der Schweiz ist, wo 40 Kellereien um den besten Pinot der Eidgenossenschaft wetteifern, hätte die Cook-Reisenden wohl kaum interessiert. Sie tranken Wasser statt Wein. Uns begegnen auch nicht „viele jämmerlich arme Gestalten“.Der internationale Tourismus, den Thomas Cook ins Rhone-Tal brachte, hat die Gegend reich gemacht.
Wir blicken hinunter auf die hier ganz ungezähmt dahin fließende Rhone und auf den größten zusammenhängenden Föhrenwald Europas, denken uns die Straße weg und stellen uns eine Kutsche vor, die durchs mittelalterliche Befestigungstor nach Leuk fährt. Natürlich müssen wir auch die 30 Satellitenschüsseln ausblenden, die großen Ohren gleich die Welt einfangen – und jeden Gedanken an die Abhöranlagen des NSA beiseite schieben.
Da folgt unser Blick doch lieber dem Turmfalken, der sich vom Rathaus aus in den blauen Himmel schwingt. Das Schloss mit dem teuren gläsernen Helm, den Stararchitekt Mario Botta dem Turm aufgesetzt hat, schiebt sich ins Blickfeld: schön, wenn auch nicht unbedingt authentisch. Vielleicht haben unsere Reisenden ja die Stefanskirche besichtigt und das hinreißende Fresko vom Jüngsten Gericht. Aber das Beinhaus mit den bestürzenden Wänden aus tausenden Schädeln konnten sie nicht sehen. Die waren hinter Mauern verborgen und kamen erst 1982 zum Vorschein, als die Mauern niedergerissen wurden, weil ausgerechnet hier ein Jugendzentrum entstehen sollte. Die alte Rebe, knorrig wie eine Holzskulptur, rankte schon zur Zeit der Reisegruppe am Haus hinter der Kirche. 1798 wurde sie gepflanzt und hat den alten Wein überleben lassen, den wuchtigen Cornalin oder Walliser Landroten. Wir genießen ihn am Abend zum Ausklang der ersten Wanderung in einem Weingut an der Rhone.
Auch am nächsten Morgen haben wir Sonne – wie die Engländer vor 150 Jahren. Der Himmel ist blau und weit, die Berge stehen mächtig gegen den Horizont. So hat sie schon Goethe gesehen, als er gegen Inden ausschritt – und von der Kutsche aus auch Jemima Morell: „Der Aufstieg nach Leukerbad ist eine endlose Folge von Haarnadel-Kurven, Felswände auf der einen Seite, Abgünde auf der anderen, ein Weg von unvergleichlicher Schönheit.“ Wir verlassen die Cook-Pfade, wollen hinauf nach Albinen, dem mittelalterlichen Bergdorf. Am Wegrand blühen Waldwachtelweizen, zottiger Klappertopf, das rote Waldvögelein und der Alpensteinquendel, das „Viagra der Alpen“. Vom Wald her dringt das Zilp Zalp des gleichnamigen Vogels an unser Ohr, unterlegt vom Trillern der Tannenmeise. Zeitlose Natur.
Dann Albinen, ein Dorf wie aus dem Bilderbuch mit den geduckten Häusern aus Lärchenholz, wäre da nicht die Kirche, die wie ein Raumschiff mitten im Ort gelandet ist. Die Cook-Gruppe kam nicht bis hierher. Sie hätte über die Albinen-Leitern klettern müssen – bis 1956 war das Dorf nur so erreichbar. Doch für die Ladies mit ihren langen Röcken wäre dies zu beschwerlich gewesen. Auch für uns sind die acht hölzernen Leitern, die schräg in der steilen Wand lehnen, eine Herausforderung. Mit zitternden Knien hangle ich mich von Sprosse zu Sprosse und meide geflissentlich den Blick nach unten in eine schier bodenlose Tiefe. Von Leiter zu Leiter taste ich mich nach oben. Auf das Marterl am Wegrand werfe ich nur einen zaghaften Blick. Auch ohne diese Erinnerung an die Absturzgefahr ist mir schon bang genug. Oben dann Erleichterung pur. Und das siebengängige Thomas-Cook-Menü in Jemimas „Sommerstadt“ Leukerbad haben wir uns redlich verdient.
Anders als die Cook-Gruppe, die sich mit Fenstergucken begnügte, gönnen wir uns ein ausgiebiges Bad im wannenwarmen Thermalwasser und einen Apéro auf schwimmenden Servier-Brettern wie einst. Denn am nächsten Tag steht uns die Meisterprüfung bevor: die Überquerung des Gemmi-Passes. Und am frühen Morgen, als das Gras noch feucht ist vom Tau, geht es uns wie Jemima Morell und ihren Begleitern. Wir konnten nicht begreifen, wie wir „diese Felsmauer bewältigen sollten“. Schon 1546 hatte Sebastian Münster einen Pfad über die Gemmi beschrieben und von „erschröcklichen Felsen“ und „viel Schrunden und engen Kluften“ berichtet. 1739 dann wurde der jetzige Weg in den Felsen gesprengt. Damals sollen die Arbeiter reihenweise davon gelaufen sein. Der Lohn war schlecht, die Arbeit hart.
Bis heute windet sich der Pfad in Serpentinen die Steilwand entlang, manchmal unter überhängenden Felsen. Atemberaubend im doppelten Wortsinn. Der Schnee ist fast überall geschmolzen, sattgrün sind die Matten, blau gesprenkelt von Enzian. Und an einem Felsvorsprung entdecken wir sogar ein Edelweiß. Oben dann wird‘s kalt. Schneefelder liegen in der Landschaft wie ausrangierte Flokati-Teppiche. Die Engländer lieferten sich hier eine Schneeballschlacht – die wird gerade nachgestellt für einen touristischen Werbefilm. Mit einer Schauspielerin mit Kapotthut und langem Rock als Jemima Morell. Nur die Seilbahn, die über ihrem Kopf schwebt, passt nicht so recht ins Bild.
„Die Stadt Leukerbad sah von hier oben aus wie eine Pilzwucherung, aus der Ferne schauten die Gipfel des Monte Rosa, des Weisshorns, des Matterhorns und des Dent Blanche zu uns herüber,“ schreibt die Chronistin. Auch wir können uns kaum satt sehen an dem grandiosen Alpenpanorama. Doch wir wollen noch nach Kandersteg – zu Fuß, nicht mit Maultieren wie die Engländer. Unter uns liegt in einer felsigen Senke eisgrau der Daubensee. Von weitem schon lockt das Wirtshaus Schwarenbach, das seit 1742 hier steht und das Guy de Maupassant in der Novelle „L’Auberge“ beschrieb. Für den Dichter ein Schauplatz „grässlicher Verlorenheit“. Für Jemima Morell das _“erste Anzeichen menschlicher Zivilisation“. Für uns ein idyllisches Plätzchen, wo wir uns die Ãlpler Makronen schmecken lassen, ehe wir weiter wandern gen Kandersteg, dem Ziel unserer Reise. Über den Bergen ballen sich die Gewitterwolken wie ein dunkles Gebirge.
Bei der Ankunft im Tal schüttet der Himmel kübelweise Regen über uns aus. Kandersteg im Trüben. Wir flüchten ins Belle-Epoque-Hotel Viktoria Ritter. Das gab es auch damals, als Jemima mit ihren Begleitern hier eintraf. Doch die Gruppe nächtigte wohl im Gasthaus Bären, das abgebrannt ist. So lassen wir uns im Ritter das improvisierte Menü auftischen, mit dem der Bärenwirt vor 150 Jahren die unerwarteten Gäste abspeiste. Unsere Variante ist allerdings deutlich schmackhafter als all das, was Jemima im Wallis beschrieben hatte: „Die Suppe war entschieden wässrig, dafür hatte die Forelle das Element gewechselt und schwamm im Öl, Huhn und Reis waren biblischen Alters.“ Da hat sich doch einiges geändert in den 150 Jahren, die seit Thomas Cooks Pionierreise vergangen sind!
Doch eine Beobachtung der scharfzüngigen Chronistin gilt auch heute noch: „Die Schweizer nützen ihre Berge, (glücklosen) Touristen ihr Geld aus der Tasche zu ziehen.“