Sechs Ansichten von Les Menuires

Als Studentin war ich mal in Lac de Tignes, dem Retorten-Skiort mit den fantastischen Pisten. Als ich diesmal nach Les Menuires kam, fühlte ich mich gleich 30 Jahre jünger. Les Menuires sah fast so aus Tignes wie damals. Ein Porträt in sechs Ansichten.

 
Der Heimkehrer. Joseph („Jo“) ist 68, ein Kind des Tales, groß, schlank, graublonde Haare, Stoppelbart im zerfurchten Gesicht, helle braune Augen. Jo wurde noch im Stall geboren wie das so üblich war im  Tal von Belleville, weil man im Winter zusammenrückte mit den Tieren, die einem warm machten. Damals waren Les Menuires die Almwiesen, auf  denen ein paar vereinzelte, windschiefe Hütten standen.  „Im Sommer zogen die Frauen mit den Kindern und Tieren dort hinauf, die Männer blieben im Tal“, erinnert sich Jo. Die Menschen waren arm aber kinderreich. Neun Geschwister hatte Jo, in anderen Familien lebten bis zu 17 Sprösslinge und bald konnte das „schöne Tal“ die vielen Mäuler nicht mehr stopfen. Jos Vater, ein armer Schlucker, suchte Arbeit in der Fabrik, um die Familie zu ernähren. Auch Jo selbst ging weg wie so viele. Das Tal blutete aus. Und dann die Wende: 1958, vor fast 50 Jahren wurde mit der Erschließung begonnen, die erste Straße gebaut. Ein Skidorf für alle wollte man schaffen, die Demokratie des Reisens verwirklichen. Eine Idee, die 1968 in Beton gegossen wurde. Wie Bienenwaben stehen sie da, die Monumente dieser Planung. Hässlich kann sie Jo nicht finden. Keiner im Tal von Belleville könne das, sagt er, denn   „ohne diese Betonklötze gäbe es gar nichts hier“.  Und wer will schon den Ast absägen, auf dem er sitzt. Trotzdem ist der Heimkehrer froh, dass man neuerdings umdenkt bei den Tourismusverantwortlichen. Chalets im Schweizer Stil sind jetzt in Mode. Jo grummelt ein bisschen. Das alpenländische Dekor passt ihm nicht so recht. Schließlich habe das Tal seinen ganz eigenen Baustil, den könne man in seinem Dorf Praranger sehen oder in dem Buch, das er über die Geschichte des Tals geschrieben hat. Aber besser als die großen Kästen seien die Chalets schon, räumt er  ein. Auch der Wintergast sei schließlich ein anderer als damals. „Früher fuhren die Urlauber den ganzen Tag Ski, am Abend tranken sie Bier und fielen in die Betten. Heute wollen sie mehr von allem: mehr Platz, mehr Komfort, mehr Abwechslung.“

Der Skilehrer:  Julien, rotblond, rundes Gesicht, Sommersprossen, braune Augen,  ist auch im Tal geboren, im Dorf von Petit Coeur. Doch vor 25 Jahren war Les Menuires schon ein bekannter Wintersportort. Auf den viel zu engen Straßen wälzten sich in der kurzen Saison die Autokolonnen von Annecy ins Tal. Julien wuchs auf  in dem Bewusstsein, dass die Skifahrer den Menschen von Belleville den Wohlstand ermöglichen und ihm das Vergnügen, sein Hobby zum Beruf zu machen – zumindest im Winter. Im Sommer ist Julien Dachdecker, nicht ein gewöhnlicher, sondern ein traditionsbewusster. Julien deckt die Häuser mit den  für Belleville typischen Schieferplatten. Und wenn er Zeit hat, reist er – dem Schnee hinterher. Nach Neuseeland etwa. Am liebsten würde er das ganze Jahr lang Skifahren. So richtig zu Hause aber  ist er im Tal von Belleville. Der junge Mann liebt sein Tal und die weiten Pisten, auf denen nicht nur gute Skifahrer locker durch die drei Täler (Meribel, Courchevel, Val Thorens) schwingen können.  200 Liftanlagen erschließen im „größten Skigebiet Europas“ 600 Pistenkilometer. Die meisten davon sind blau, also leicht zu fahren, manche auch grün, kinderleicht. Breit sind alle Abfahrten und glatt gebügelt vom nächtlichen Fleiß-Einsatz der Schneeraupen. Genauso wie Carver es mögen. Julien zeigt stolz auf das hinreißende Panorama, das sich vom 2850 Meter hohen Mont de la Chambre öffnet:  auf die schimmernde  Schneefläche der Aiguille de Peclet (3562 Meter) und weiter bis hinüber zum  eisgepanzerten Massiv des Mont Blanc, mit 4809 Meter der höchste Berg der Alpen. Dann entschwebt er elegant der Piste der vier Winde folgend hinunter ins Tal. Die Pointe de la Masse (2804 Meter) lockt, steiler und eisiger als die gegenüber liegende Seite, aber auch nicht so dicht bevölkert. Und dann muss Julien zurück nach Les Menuires. Am Nachmittag hat er einen Kinderskikurs. Das macht er gern, so sichert er seinen Job – wenn es in Zukunft überhaupt noch ausreichend Schnee gibt. Da macht sich Julien nichts vor. „Ohne Wintersport können wir hier nicht überleben“, sagt er. 2950 Menschen leben derzeit wieder im Tal, fast soviel wie vor dem großen Exodus. Besorgt betrachtet der junge Mann die Wiesen neben den weißen Pisten, auf denen gerade noch ein Hauch von Weiß zu ahnen ist. „Ohne Beschneiung könnten wir zumachen“, fürchtet er. Dabei hängt der Himmel heute voller Schnee, dicke Wolken sind aufgezogen. „Das?“ Julien lacht, „das bringt nicht viel, aber besser als nichts.“  Der Skilehrer zieht die Mütze ins Gesicht und schießt los in Richtung La Croisette, wo der  Brettlnachwuchs schon wartet.

Der Schneemann: Monsieur Yves hat ein Gespür für Schnee, für Kunstschnee. Kein Wunder, ist der gelernte Klempner doch von Anfang an dabei.  Seit 21 Jahren wird in Les Menuires beschneit. Der 50-jährige, dunkle Haare im Caesarschnitt, rote Bäckchen, grünbraune von Lachfalten umrahmte Augen, hat den Blaumann gegen Jeans und schwarzes T-Shirt eingetauscht und führt durch sein Reich oben auf dem Berg. Monsieur Yves hat viel zu tun, nicht nur zur Winterszeit. Er ist ganzjährig Schneemann, denn die teuren Maschinen müssen fachgerecht gewartet werden. Zwei Monate dauert der Aufbau der Station, einen Monat rechnet er für den Abbau. Und ab November wird beschneit – wenn es kalt genug ist, 30 Zentimeter pro Nacht sollten zu schaffen sein.  Jetzt ist Hochzeit in der Schnee-Zentrale. Zusammen mit zwei Kollegen ist Yves  Herr über 358 Schneekanonen, die auf sein Kommando loslegen. Wenn sie an guten Tagen aus allen Rohren schießen, verpulvern sie pro Stunde 840 Euro, indem sie 1000 Kubikmeter beschneien. Jährlich werden so rund 500 Millionen Kubikmeter Wasser in Schnee verwandelt. Dabei ist Schnee nicht gleich Schnee,  erklärt Monsieur Yves. Elf verschiedene Schneesorten kennt der Mann, der sich selbst als „Schneezüchter“ sieht. In Les Menuires verwenden sie eine, „die wirtschaftlich ist und die den Skifahrern gefällt“.  Hier wird nichts dem Zufall überlassen. Im Kontakt mit den Pistenpflegern überprüft Monsieur Yves täglich die Qualität. Auf den echten Schnee könne man sich schon längst nicht mehr verlassen, sagt der 50-jährige. In diesem Jahr fielen die ersten Flocken am 25. Januar vom Himmel – viel zu spät für den Wintersportort. Er hat das Gefühl, dass von Jahr zu Jahr  mehr Kunstschnee produziert werden müsse. Und die Klimaerwärmung?  Monsieur Yves nickt bedächtig mit dem Kopf. „Ja, die Frosttage, die man zum Schneemachen nutzen kann, werden immer weniger.“ Da hilft die ganze Technik nichts – die Riesenschneepumpen, die im Keller einen Höllenlärm machen, die Computer, auf denen die Pistenpläne sich in Schaltkreise verwandeln und die schmalen Schneelanzen, aus denen des Nachts reines Weiß auf die abgefahrenen Pisten fällt. Doch derzeit ist es kalt genug. Monsieur Yves bringt  seine Schneekanonen-Armee in Stellung. Am nächsten Morgen strahlt die Sonne über Pisten, die makellos sind wie weiße Laken.

Der Naturfreund: Dominique (46) ist Skilehrer wie Julien. Aber der kleine Mann mit der hohen Stirn, dem schmalen Gesicht und den wachen Augen ist vor allem Naturliebhaber. Deshalb macht es ihm auch Spaß, Ausflüge mit Schneeschuhen oder Tourenski abseits der Pisten zu organisieren. „Da kann man noch Natur erleben“, sagt er und zeigt auf eine Spur im Schnee. „Bestimmt ein Schneehase. Die haben so einen dunkelgrauen Puschel an den Ohren, sonst könnte man sie nicht von einem Schneeball unterscheiden.“ Einmal hat er auch schon eine Wolfsspur entdeckt. Die meisten Spuren stammen aber von Gämsen, Füchsen, Hirschen und eben von Schneehasen.  Die Spuren sehen wir wohl, aber keine Tiere. Dominique grinst: „Wir sind zu nah an der Piste. Der ganze Skizirkus ist viel zu hektisch für die scheuen Tiere.“ Im Talabschluss, da wo „wirklich kein Lift gebaut werden darf“, da könne man ihnen begegnen: Gämsen auf der Suche nach Futter, spielende Schneehasen, Raubvögel. Dominique blickt in Richtung Val Thorens, fast beschwörend, als könne er eines der Tiere herbeizaubern. Auch wenn seine Liebe dem Tourengehen gehört, sein Brot verdient der Savoyarde als Skilehrer. Und da will Les Menuires neue Kundengruppen erschließen. „Vor zwei Jahren haben ich Chinesisch gelernt“, erzählt Dominique, weil man einen Ansturm aus dem Reich der Mitte erwartet habe. „Aber bis heute hatte ich noch keinen chinesischen Schüler.“ Das kann sich ändern. Auf den Pisten zwischen den drei Tälern sind wir einer Gruppe von vier Chinesen begegnet.

Die Gastgeberin: Agnes, schmal, kurze braune Haare, dunkle Augen, ist Managerin des Chalet-Dorfes Les Montagnettes, eine taffe Frau, die weiß, was sie will. Zunächst einmal: mehr Urlauber aus Deutschland. Denen habe man doch extra die schnuckeligen Chalets hingestellt. Denn „Les Menuires ist ziemlich hart, was die Architektur angeht.“ In Les Montagnettes habe man schon 1997  etwas anderes etablieren wollen, den „Chalet Spirit“, mehr Holz, mehr Platz, mehr Komfort. Das war neu, denn „die französischen Skiressorts haben nicht gerade den Ruf, gemütlich zu sein.“ Agnes lacht kurz auf und runzelt dann die Stirn. Meist sind es Männergruppen, die nach Les Menuires kommen. Die wohnen dann oft in den Bienenwaben, weil’s da billiger ist und nah zum Einkaufszentrum der Croisette und den Kneipen. Die Managerin weiß, was zu tun ist:  „Wir müssen das Preis-Leistungs-Verhältnis verbessern.“ Sie weiß aber auch, dass das nicht leicht sein wird. „Das Problem sind  die Immobilienpreise. Die Saison ist kurz und sie wird immer kürzen. Da wird es schwer, die Investitionen wieder reinzuholen“.  Mehr Familien wünscht sie sich, „Les Menuires hat viele Möglichkeiten für Kinder – Kleinkindbetreuung, Kinderclub, eine Eisburg zum Spielen, Kinderskikurse, Rodelspaß auf Reifen, Schwimmbad.“ Und in den Chalets könnten Eltern und Kinder sich wie zu Hause fühlen. Seit einem Jahr gibt es auch ein Restaurant im Chaletdorf, das Cafe Baroc mit durchaus anspruchsvoller Küche. Aber die Urlauber kommen selten, „vielleicht einmal die Woche“, argwöhnt Agnes. Zu wenig, um das Restaurant am Leben zu erhalten. Im nächsten Jahr soll deshalb ein Dinner pro Person im Wochenmietpreis eingeschlossen sein, der sich dann natürlich auch erhöhe. Eine Art Zwangsbeglückung. Agnes hofft,  dass es nicht bei dem einen Mal bleibt, dass die Küche überzeugt. In Val Thorens sei das gelungen, macht sie sich Mut.

Der Zugereiste: Gerard (44), groß, blondes Haar, blaue Augen, ist Holländer, ein echtes Mannsbild. Das dachte sich wohl auch die Krankenschwester aus Les Menuires, die ihn vor zwölf Jahren nach einem Skiunfall wieder gesund pflegte. Die beiden sind inzwischen ein Paar und haben drei Kinder. Gerard arbeitet bei der Liftgesellschaft und bezeichnet sich selbst als „Herumführer“. Und herumführen tut er gern und ausgiebig an diesem bilderbuchschönen Wintertag. Über blaue, rote und schwarze Pisten, mit Sesselbahnen, Gondeln und Schleppliften erkunden wir die drei Täler, begeistern uns an den ständig wechselnden Panoramen und werden nicht müde, die perfekt präparierten Abfahrten hinunter zu gleiten. Der Mittagsimbiss wird zur Nebensache. Am liebsten würden wir den ganzen Tag so weitermachen: rein in den Lift, rauf auf den Berg und in weiten Bögen zu Tal schwingen, rein in den Lift, rauf auf den nächsten Berg… In Courchevel legen wir dann doch eine Pause ein, setzen uns in eines der Freiluftcafes, lassen uns die Sonne ins Gesicht scheinen und die modisch aufgeputzten Menschen an uns vorüberflanieren. Courchevel ist der Nobelort der Trois Vallees. Im Ortsteil  Courchevel 1850 sind Fünfsternehotels, Luxusvillen und Gourmetrestaurants entlang der Piste aufgereiht. Superreiche und Stars fliegen schon mal mit dem eigenen Flugzeug ein. Für sie gibt es auf 2000 Meter einen Flugplatz mit schiefer Landebahn. Wer hier bergab direkt über einen Abgrund startet, muss Nerven bewahren. Michael Schumacher hat damit wohl keine Probleme. Er gehört zu denen, die das variantenreiche Skigebiet schätzen, das in diesem Jahr 60 Jahre alt wird. Auch die Preise werden den Milliardär nicht schrecken. Immerhin: ein formidable, wie die Maß Bier hier heißt, kostet in der einfachen Kneipe satte 17,50 Euro. Wirklich formidabel. Gerard blinzelt in die Sonne, trinkt sein kleines Bier und schweigt. Er mag’s lieber bodenständig wie in Les Menuires, wo ihn jede(r) kennt. Kritik an seiner neuen Heimat liegt dem Zugereisten fern. „Man muss genießen, was man hat“, ist die Devise des Lebenskünstlers.   Und heute genießt er einen Skitag zum Träumen.   

Es gibt bisher keine Kommentare.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert